Maras Munzur
Die ganze Welt schaut derzeit fassungslos nach Israel, wo nach Attacken der radikalislamischen Terrororganisation Hamas mindestens 500 israelische Bürger getötet wurden. In Gaza, wo die Hamas ihren Hauptsitz hat, aber auch im Westjordanland, steigen nach israelischen Militäroperationen die Todeszahlen auch immer weiter an. Mindestens 300 Palästinenser sollen bislang getötet worden sein. Dazu kommen mehrere Tausend Verletzte auf beiden Seiten, die zum Teil kritische Verletzungen erlitten haben.
In Israel ist derzeit eine Schockstarre zu spüren. Dennoch schweißen die Angriffe das zuletzt tief gespaltene Land zusammen. Momentan scheint es so, als ob die politischen Differenzen beiseite gestellt worden sind. Dennoch hört man überall die Frage: Wie konnte das passieren?
Israel gilt bei der Sicherheitstechnik als eines der hochgerüstetsten Länder der Welt. Nicht nur wurde an der Grenze zum Gazastreifen eine bis mehrere Meter tief in die Erde gehende Mauer und ein Sicherheitszaun gebaut, sondern auch enorme Ressourcen für die Sicherheitstechnik aufgewendet. Kameras, Drohnen und andere digitale Techniken hatten sich bislang größtenteils bewährt.
Daher fragen sich nun viele, wie eine derartig groß angelegte Attacke überhaupt möglich gewesen ist.
Im deutschsprachigen Raum vermuten Sicherheitsexperten im Öffentlichen Rundfunk, dass einerseits der Zeitpunkt des Angriffs und andererseits falsche Prioritäten eine Rolle gespielt haben müssen. Der Angriff kam genau einen Tag nach dem 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs, als die arabischen Nachbarn Israels in einem Überraschungsmoment an einem heiligen Feiertag die Existenz des Landes ernsthaft bedrohten. Auch dieses Mal wurde ein heiliger Feiertag als Zeitpunkt ausgewählt und genau wie damals verbrachten viele Israelis den Tag bei der Familie. Doch genau dieses traumatische Erlebnis vor 50 Jahren galt dem Land als Warnung für zukünftige Angriffe. Daher ist das Argument für eine potenzielle Vernachlässigung der Sicherheitsvorkehrungen nicht ausreichend.
Eine weitere Argumentation war, dass Israel den Fokus eher auf das Westjordanland gelegt hätte, wo die Eskalationsspirale zwischen israelischen Siedlern sowie den israelischen Sicherheitskräften einerseits und Palästinenser sowie palästinensische Organisationen anderseits immer weiter drehte. Im Westjordanland, wo die Hamas und der Islamische Djihad jahrelang als Randfiguren auftraten, wuchsen diese beiden Organisationen zu einer immer größeren Kraft an. Zuletzt kam es immer wieder zu gegenseitigen blutigen Angriffen. Man habe daher eher weniger mit einem Angriff aus dem zuletzt ruhigen Gazastreifen gerechnet, so die Argumentation. Dabei ist es vor allem Israel bewusst, dass die weitaus größere Gefahr nach wie vor vom Gazastreifen ausgeht. Die Hamas und der Islamische Djihad haben hier ihr Standbein und eine feste Bevölkerungsstruktur hinter sich. In den letzten Jahren war der Gazastreifen immer wieder Ausgangspunkt von schweren Angriffen und immer wieder Ziel israelischer Lufteinsätze. Genau aus diesen Gründen investierte Israel viel in die Sicherheit vor Gaza, was sich sicherheitspolitisch mehr oder weniger bewährt hatte.
Die israelische Regierung wird sich, wenn der Schock sich gelöst hat, viele Fragen beantworten und verantworten müssen, vor allem Regierungschef Benjamin Netanjahu, der mit einem rechten Bündnis Israel seit Ende 2022 regiert. Den Posten für den Minister für Nationale Sicherheit bekam der rechtsextreme Politiker Itamar Ben-Gvir, der immer wieder polarisierte und provozierte indem er sich offen zur illegalen Siedlungspolitik sowie Waffengewalt positionierte oder auf der für Muslime heiligen Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem für Provokationen sorgte.
Nun wurde die Nationale Sicherheit Israels in einem historischen Ausmaß angegriffen und ausgehebelt, dass auch Ben-Gvir als zuständiger Minister sich verantworten muss. Schließlich versprachen er und auch Netanjahu, mit einer härteren Gangart gegenüber den Palästinensern für mehr Sicherheit zu sorgen.
Momentan scheint sich die israelische Regierung bestätigt zu fühlen und greift zu allen militärischen Mitteln. Die Hamas soll bis zur Unkenntlichkeit zerstört werden, so Netanjahu. Was in der Theorie möglich ist, wird in der Praxis so kaum umzusetzen sein. Die Hamas verschleppte eine hohe, jedoch unbekannte Zahl an israelischen Soldaten und Zivilisten in den Gazastreifen und warnte Israel vor ihren militärischen Aktionen. Ob Israel es wagen wird, das Leben von so vielen Geiseln zu gefährden, ist fraglich. In der Vergangenheit wurden im Gegenteil eher verhandelt und großzügige Zugeständnisse gemacht. Es ist daher eher zu bezweifeln, ob die israelische Regierung solch einen Schritt wagt, womit es höchstwahrscheinlich den Unmut der israelischen Zivilgesellschaft auf sich ziehen würde.
Benjamin Netanjahu, gegen den mehrere Strafverfahren wegen Korruption und Amtsmissbrauch laufen, spaltete zuletzt mit den geplanten Justizreformen das Land. Im ganzen Land kam es zu Massenprotesten historischer Dimension. Nun erlebt Israel seinen persönlichen 9/11. Verantwortlich dafür ist die Hamas, doch in Israel werden sich, wenn die angekündigte Rache Netanjahus beendet oder sogar gescheitert ist, die Stimmen gegen ihn rasant vermehren. Schließlich wurde das Sicherheitsgefühl vieler Israelis erheblich beschädigt und die Sicherheitspolitik hat in Israel einen unvergleichlichen Stellenwert. Die Regierung Netanjahus, die die Sicherheit Israels stärken wollte, steht jetzt sogar vor einem möglichen Flächenbrand, der die ganze Region miteinbeziehen könnte. Wer von dieser Situation profitieren wird, ist unklar, doch Netanjahu wird in seiner sechsten Amtszeit seine schwierigste Zeit haben.