Am Dienstag überschlugen sich die Ereignisse im UN-Sicherheitsrat. Brasilien und die Schweiz brachten gemeinsam einen Resolutionsentwurf im UN-Sicherheitsrat ein, der eine 9-monatige Verlängerung der humanitären Hilfe für Syrien vorsah, die am Montag abgelaufen war. Während die meisten der 15 Mitglieder für den Entwurf stimmten, legte Russland als Vetomacht ein Veto ein und forderte stattdessen eine 6-monatige Verlängerung. Gegen den russischen Vorschlag legten die USA, Großbritannien und Frankreich ihr Veto ein, sodass aktuell die humanitäre Hilfe für Syrien stockt.
Eine einzige offene Grenze
Im konkreten Fall geht es um den Grenzübergang bei Bab al-Hawa, den einzig verbliebenen offenen Grenzübergang für humanitäre Hilfe in Syrien. Seit 2020 verringerten sich auf Druck Russlands und Chinas die offenen Grenzübergänge für die Nothilfe von vier auf eins. Die Grenze wird auf beiden Seiten von der türkischen Armee kontrolliert. Auf der syrischen Seite stehen zusätzlich noch die syrischen Gehilfen der türkischen Besatzung. Über diese Grenze wurde vor allem die Region um Idlib versorgt, wo 4 Millionen Menschen auf die Hilfen angewiesen sind. Idlib wird unter türkischem Schutz von verschiedenen Oppositionsgruppen kontrolliert, wobei die dominante Kraft die Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS) ist.
Bis zum 13. August ist jedoch ein weiterer Grenzübergang im Rahmen der Erdbeben-Nothilfe noch geöffnet. Wie es danach weitergeht, ist derzeit noch ungewiss. Zuletzt intensivierten sich zudem die Kampfhandlungen in der Region. Die russische Luftwaffe flog im Juni so viele Angriffe auf die Region, wie seit drei Jahren nicht mehr.
Noch nie dagewesene Hungerkrise
Doch es ist nicht nur die Region um Idlib, die humanitäre Hilfe nötig hat. In ganz Syrien leiden nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen über 12 Million Menschen und damit über 60 % der Bevölkerung Hunger. 5,6 Millionen Menschen erhalten jeden Monat Hilfe vom WFP, ohne die das Überleben kritisch wird. Die Zahl der Bedürftigen steigt in Syrien in einem rasanten Tempo, alleine 4,5 Millionen mehr wurden es innerhalb eines Jahres. Der Bürgerkrieg, die Corona-Pandemie und dann die Folgen des Krieges in der Ukraine stürzten das Land in eine schlimme Krise.
Besondere Krise in Nord- und Ostsyrien
Eine Region im Land erhält jedoch bei der ganzen Thematik kaum Aufmerksamkeit. Die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, kurz AANES, mit ihren über 5 Millionen Einwohnern und Hunderttausenden Binnenvertriebenen leidet genauso wie der Rest des Landes an der Krise. Dennoch wird die Region schon seit Jahren bei der humanitären Hilfe vernachlässigt oder ausgeschlossen. Dabei hat die Region mit vielen Problemen zu kämpfen, die an den Kräften der Menschen der Region zehren.
Die Türkei intervenierte mehrmals militärisch in der Region und errichtete im Norden des Landes mehrere Besatzungszonen mit einem eigenen Besatzungsregime. In der Folge nahm die AANES Hunderttausende Vertriebene aus Afrin und den anderen besetzten Gebieten auf. Dazu kommen Flüchtlinge und Vertriebene aus anderen Teilen Syriens, die entweder vom Assad-Regime oder dem Regime der Oppositionellen flüchteten.
Bedrohung durch den IS und die Türkei
Außerdem beherbergt die Region wahrscheinlich das weltweit größte Gefängnis für Terroristen und ihre Angehörigen, die eine ständige Gefahr für die Region und darüber hinaus darstellen. Mehr als 60.000 Angehörige und Mitglieder, darunter auch Tausende Ausländer, der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) leben in den Camps und Gefängnissen der Region. Die AANES wird trotz Appellen mit dem Problem weitgehend alleine gelassen. Immer wieder kommt es zu Revolten und Befreiungsversuchen durch ihre Mitkämpfer in Freiheit.
Der Kampf gegen den IS wird nämlich weitergeführt, auch wenn die Organisation militärisch als besiegt gilt. Hunderte, gar Tausende Mitglieder werden weiterhin in Freiheit vermutet und tatsächlich steigerte die Terrororganisation zuletzt ihre Aktivitäten.
Daneben muss die Region jederzeit mit einem erneuten Überfall der Türkei rechnen, die die Region im letzten Monat mit einem Drohnenkrieg überzog. Im ersten Halbjahr 2023 wurden insgesamt 73 Menschen, darunter 20 Zivilisten, Opfer türkischer Drohnenangriffe. Der türkische Staatspräsident Erdogan droht immer wieder mit einer erneuten Invasion in die Region.
Zerstörte zivile Infrastruktur und die Wasserkrise
Die Türkei greift auch immer wieder gezielt die zivile Infrastruktur in der Region an. In den vergangenen Monaten wurden Elektrizitätswerke, Wassermühlen, Weizen sowie Saatsilos, Wasserpumpen, Gas- und Ölfelder angegriffen.
Nun wurde auch erneut das Wasser für die Region um al-Hassaka abgestellt. Die Trinkwasserversorgung für die mehr als eine Million Menschen in der Region wird vor allem durch die Wasserstation Alouk bei der Stadt Serê Kanîyê (arab. Ras al-Ain) an der türkischen Grenze gewährleistet. Doch seitdem die Türkei die Stadt und damit auch die Wasserstation im Zuge einer Militärinvasion seit 2019 besetzt hält, kommt es immer wieder zur Verringerung oder gänzlichen Abstellung der Wasserzufuhr in die Region. Laut Angaben der Trinkwasserbehörde der AANES wurde seitdem mehr als 40 Mal das Wasser abgestellt. Beim letzten Mal für mehr als 8 Monate. In der Region wurde aufgrund der akuten Wasserkrise der Katastrophenalarm ausgerufen.
Die Region beklagt seit langem, dass die Türkei kontinuierlich Wasser als Waffe einsetzt. Nicht nur an der Wasserstation bei Alouk wird die Wasserzufuhr blockiert, sondern auch bei den Flüssen, die über die Türkei nach Syrien fließen. Der Nebenfluss Chabur des Euphrats ist in Nordsyrien dadurch fast vollständig ausgetrocknet worden.
Die humanitäre Krise in Nord- und Ostsyrien verschlimmert sich stetig, was vor allem an der türkischen, konventionellen und unkonventionellen Kriegsführung liegt. Dennoch erreicht die Region kaum Hilfe. Die Großmächte der Welt ignorieren diesen Teil Syriens mit seinen über fünf Millionen Menschen, wenn sie über das Leid in Syrien sprechen. Der Vorgang im UN-Sicherheitsrat hat erneut bewiesen, dass politische Interessen der Großmächte wichtiger sind, als die dringend benötigte Hilfe für die leidtragenden Menschen im Land. Das internationale Großkonzert der Mächte ist am Leid der Menschen in Syrien, insbesondere in Nord- und Ostsyrien, nicht interessiert, obwohl sich die Situation hier zuspitzt. Wenn die Welt eine weitere humanitäre Katastrophe verhindern will, muss sie schnell handeln und Lösungen finden. Die Auswirkungen wären katastrophal. Nicht nur Flucht und Hunger, sondern auch das Aufflammen von IS-Terror ist möglich, wenn nicht schnell dagegen gelenkt wird.