Vor einigen Tagen gab die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (kurz: AANES) bekannt, in Kürze juristische Schritte gegen die Verbrechen des IS zu starten. Seit 2019 sitzen mehr als 60.000 Mitglieder und Angehörige der Terrororganisation, ohne jegliche Gerichtsverfahren, in den Gefängnissen und Camps von Nord- und Ostsyrien ein. Darunter befinden sich auch knapp 2.000 ausländische Kämpfer sowie Tausende ausländische Angehörige des IS, die von ihren Herkunftsländern trotz Aufrufen nicht zurückgeholt werden. Die AANES will diesem Zustand der Straflosigkeit nach jahrelangen Bemühungen um eine internationale Lösung ein Ende setzen.
Im Rahmen einer Online-Konferenz mit Dutzenden Journalisten aus verschiedenen Ländern gab Bedran Ciya Kurd, Ko-Vorsitzender des Büros für Außenbeziehungen der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien einen Einblick zu den angekündigten Prozesse gegen ausländische Mitglieder der Terrororganisation Islamischer Staat (IS).
Bedran Ciya Kurd versicherte, dass die Gerichtsverfahren gegen die IS-Kämpfer transparent durchgeführt werden und die Region für alle Institutionen, die mit der Selbstverwaltung zusammenarbeiten möchten, offenstehen, um zur Verhandlung beizutragen. Die AANES rief in ihrer Erklärung insbesondere die Vereinten Nationen, NGOs und Medien zur Mitwirkung und Teilnahme auf.
Die Gerichtsverfahren werden für Medien zugänglich sein, es sei denn, es handelt sich um spezielle Fälle, in denen Opfer zu Wort kommen und sich ein Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit wünschen.
Die IS-Prozesse werden entweder auf Kurdisch, Arabisch oder Aramäisch, den offiziellen Sprachen der Region, durchgeführt und die Gerichte werden mit Dolmetschern für die Aussagen ausländischer IS-Kämpfer ausgestattet.
Laut Ciya Kurd wird die Berechnung ihrer Haftzeit in Nord- und Ostsyrien nach ihrer Auslieferung von den Abkommen zwischen der AANES und den betroffenen Herkunftsländern abhängen. Insbesondere bei der strafrechtlichen Verfolgung der ausländischen IS-Kämpfer mahnte die AANES zur Kooperation auf.
Die Aufgabe sei sehr schwierig und stelle eine große Herausforderung für die Region und ihre Institutionen dar. Bedran Ciya Kurd rief im Namen der AANES alle betroffenen Länder auf, das Vorhaben zu unterstützen. “Wir hoffen, dass dies möglich ist”, sagte er. Tatsächlich sind die Kapazitäten der Region aufgrund der heiklen politischen und wirtschaftlichen Situation ausgelastet.
“Eine internationale Gerichtsbarkeit ist nicht erforderlich” fuhr Ciya Kurd fort. “Die betroffenen Länder können sich mit uns in Verbindung setzen und wir können eine Vereinbarung über eine Gerichtsverhandlung in der Region treffen.” Nachdem die AANES seit 2019 sich um ein internationales Tribunal und Mitwirkung bemüht hatte, will sie nun nach Jahren der Straflosigkeit alleine über die Mitglieder des IS richten. Dennoch lädt sie die betroffenen Länder weiterhin ein, an den Verfahren teilzunehmen.
Die Gerichtsverfahren gegen IS-Kämpfer seien ein Teil des Krieges gegen den Terrorismus und eine Ergänzung auf der militärischen, politischen und rechtlichen Ebene. Sicherheitspolitisch stellen die Tausenden Inhaftierten des Islamischen Staates eine erhebliche Gefahr für die Region und darüber hinaus dar. Selbst Us-General Michael Kurilla, der die Region im März besuchte, stellte dieses Problem fest und rief zum Gegensteuern auf.
Bedran Ciya Kurd kam auch auf die türkischen Aggressionen zu sprechen, die jegliche Bemühungen in der Region behindern würden. “Die türkischen Bedrohungen und Angriffe stellen ein großes Problem dar und behindern unseren Kampf gegen den Terrorismus. Wir haben die beteiligten Parteien gebeten, einzugreifen, aber bisher keine Antwort erhalten”, führte er aus.
Der Mechanismus zur Einleitung von Gerichtsverfahren und zur Einladung der Inhaftierten werde von den zuständigen Rechtsbehörden in der Region festgelegt und basiere in der Regel auf technischen Bedingungen wie der Vervollständigung von Ermittlungen, Akten und Beweissammlungen. . “Viele Frauen waren Opfer der Organisation. Daher werden Frauen individuell je nach verfügbaren Beweisen vor Gericht gestellt”, ergänzte er weiter.
Einen besonderen Stellenwert gab er den Anliegen der vom IS stark verfolgten Ezidinnen. “Wir haben viele Zeugen, viele ezidische Frauen und sind in ständigem Kontakt mit ihnen. Sie haben viele Forderungen und wir werden diese Gespräche noch tiefer führen.”
Es gebe noch einige Hürden zum Start der Prozesse. “Die Gerichtsverfahren können aus Sicherheitsgründen noch kein festes Startdatum haben, und es müssen Fragen und Vorbereitungen mit beteiligten Parteien wie der internationalen Koalition und der internationalen Gemeinschaft diskutiert werden, um Angriffe zur Befreiung von Terroristen wie im letzten Jahr in al-Hassaka zu verhindern”, sagte Ciya Kurd und bezog sich dabei auf die weiterhin existente Gefahr des IS. Im Januar letzten Jahres versuchte der IS mit hunderten Kämpfern, ihre Mitstreiter im Gefängnis al-Sinaa zu befreien. Immer wieder kommt es zu Befreiungs- oder Ausbruchsversuchen.
Es gebe keine festgelegte Frist für den Abschluss der Gerichtsverfahren und die Gerichte würden juristische Gremien aus Experten für Terrorismusfragen bilden. Die AANES beteuerte, dass die Prozesse im Einklang mit geltenden internationalen Gesetzen zum Terrorismus stehen werden.
Zum Schluss ging Bedran Ciya Kurd auf das Schicksal der Kinder der Angehörigen und Kämpfer des IS ein. In den Camps der Region wächst eine neue Generation heran, die nichts anderes als die radikale Ideologie des IS und die umgebenden Mauern gesehen hat. “Es gibt Länder, die Anträge gestellt haben, um diese in ihre Länder zurückzubringen, und wir sind bereit, bei der Rückführung zu kooperieren, aber das Problem liegt darin, dass viele Länder sich weigern, sie zurückzunehmen”, erklärte Ciya Kurd. “Es ist für uns wichtig, Schritte gegen Extremismus zu unternehmen und Projekte zur Rückkehr dieser Menschen in ein normales Leben zu unterstützen und den Extremismus zu bekämpfen”, so der Ko-Vorsitzende des Büros für Außenbeziehungen. Doch auch hierbei wird Hilfe benötigt, da die Kapazitäten der Region für diese Aufgabe nicht ausreichen. Außerdem wäre es im Hinblick auf eine Rückkehr der ausländischen Kämpfer und Angehörigen der Terrororganisation wichtig, diese in Bezug auf ihre Heimatländer zu rehabilitieren.