Recep Tayyip Erdogan gewann am 28. Mai die Stichwahl zum Präsidenten und wurde am Samstag vereidigt. Zugleich ernannte Erdogan sein neues Kabinett. Erdogan wechselte bis auf zwei Namen das komplette Kabinett aus. Einzig der Gesundheitsminister und der Kultur- und Tourismusminister blieben erhalten.
Auffällig sind die Veränderungen bei den wichtigsten Posten, die Fragen bezüglich einer neuen Marschroute von Erdogan aufwerfen.
Neue Namen, alte Muster?
Erdogan holte Mehmet Şimşek als Finanzminister zurück, nachdem dieser 2018 seinen Posten räumen musste. Danach stürzte mit dem Schwiegersohn von Erdogan an der Spitze des Finanzministeriums die türkische Wirtschaft rapide ab. Şimşek gilt zwar als klassischer Ökonom, der die Niedrigzins-Politik von Erdogan ablehnt und durch seine früheren Tätigkeiten gute Kontakte ins europäische Ausland besitzt, jedoch befürchten Finanzexperten, dass auch er die Wirtschaftskrise nicht stoppen kann.
Süleyman Soylu, der als rechter Hardliner gilt und in Mafia-Skandale verwickelt ist, ist nicht länger Innenminister des Landes. Für den Posten wurde der Bürokrat Ali Yerlikaya ernannt, der bislang als Gouverneur von Istanbul tätig war. Soylu war eine der umstrittensten Persönlichkeiten der letzten Regierungsperiode, der vor allem in der Kurdenfrage rigoros vorging. Yerlikaya hingegen ist kaum medial in Erscheinung getreten.
Neuer Außenminister ist Hakan Fidan, langjähriger Chef des türkischen Geheimdienstes. Fidan ist ein enger Vertrauter Erdogans. Er arbeitete als junger Offizier für die NATO. Fidan könnte somit zu einem neuen Bindeglied zwischen der Türkei und dem Westen werden, zu dem sich die Beziehungen in den letzten Jahren verschlechterten.
Im neuen Kabinett von Erdogan gibt es nur eine Frau, die wie ihre Vorgängerin auch den Posten als Familienministerin bekleiden wird. Die Ernennung von Mahinur Özdemir Göktaş ist aus zweierlei Gründen interessant. Einerseits wirft die Ernennung der einzigen Frau als Familienministerin die Frage über das Frauenbild der türkischen Regierung auf, da ihr nicht selten vorgeworfen wird, die Rolle der Frau auf die Familie zu begrenzen. Andererseits ist es ein Bekenntnis für die weitere Leugnung des Genozids an den Armeniern und der europäischen Haltung in dieser Frage. Die Politikerin wurde 2015 als belgische Parlamentarierin aus ihrer Partei entlassen, nachdem sie sich öffentlich gegen die Anerkennung des Armeniergenozids ausgesprochen hatte.
Eine neue Kurdenpolitik?
Die Zusammenstellung des Kabinetts wirft jedoch in Kombination mit dem neuen Parlament auch andere Fragen auf, die für die türkische Innenpolitik von wichtigster Entscheidung sein könnten. Die sogenannte ‘Kurdenfrage’ ist die am längsten ungelöste innenpolitische Problematik des Landes. Nach wie vor fordern Millionen Kurden im Land mehr Rechte. Eine Partei, die sich sehr stark für die kulturellen und politischen Rechte der Kurden einsetzt, ist die HDP. Sie wurde bei den Parlamentswahlen in den meisten kurdisch geprägten Provinzen des Landes erneut zur stärksten Partei. Doch für die türkische Regierung ist die HDP lange kein Gesprächspartner mehr. Spätestens seitdem die regierende AKP mit der rechtsextremen MHP eine Koalition einging, brach sie zugleich jeglichen Kontakt zur Partei ab. Seitdem wird die HDP stärker kriminalisiert als zuvor. Im Wahlkampf wurde die Partei ständig als “politischer Ableger einer Terrororganisation” diffamiert.
Stattdessen setzten Erdogan und die AKP auf die Hüda-Par. Die Hüda-Par ist eine von Kurden dominierte radikalislamistische politische Partei, die ihren Ursprung in der verbotenen Organisation ‘Hizbullah’ (arab. Partei Gottes) hat, die vor allem in den dunklen 90er Jahren hunderte politische Gegner aus den Vorgängern der HDP, aber auch Soldaten und Polizisten ermordete. Die Abkürzung ‘Hüda-Par’ bedeutet im Persischen, aber auch im Kurdischen (xwedê, xweda) ebenfalls ‘Partei Gottes’, womit die Partei von ihrem Ursprung selbst kein Geheimnis macht.
Obwohl die Partei im Wortlaut ihres Programms auch die Rechte von Kurden vertritt und teilweise sogar radikale Forderungen stellt, wurde sie nicht kriminalisiert und stattdessen sogar in das von rechten und rechtsextremen Parteien dominierte Bündnis aufgenommen. Die Hüda-Par entsandte durch die Listen der AKP vier Abgeordnete ins Parlament. Daneben wird die Partei mit staatlicher Unterstützung im kurdischen Südosten der Türkei immer präsenter. In Städten wie Diyarbakir (kurd. Amed) oder Batman eröffneten Anhänger der Parteien mehrere Koranschulen, in denen hauptsächlich auf kurdisch unterrichtet wird. Zugleich werden jedoch Kurdish-Kurse der HDP oder ihrer Anhänger kriminalisiert und in der Regel verboten und geschlossen.
Härterer Kurs bei eigener ‘kurdischen’ Agenda?
Nun spricht auch das neue Kabinett für eine Neuausrichtung Erdogans in der Kurdenpolitik. Bei den Präsidentschaftswahlen votierten die meisten kurdisch geprägten Provinzen des Landes gegen Erdogan. Mindestens vier der neuen Minister haben kurdische Wurzeln. Der stellvertretende Staatspräsident Cevdet Yılmaz kommt aus Bingöl, Finanzminister Mehmet Şimşek kommt aus Batman und Gesundheitsminister Fahrettin Koca aus einem von Kurden geprägten Ort bei Konya. Daneben wurden wichtige Posten neu vergeben. Der Hardliner Süleyman Soylu, der für seine harte Hand gegen kurdische Politiker und Aktivisten bekannt war, ist nicht mehr Innenminister des Landes. Stattdessen wurde mit Ali Yerlikaya ein neuer unbekannter Name für ihn gebracht. Ob dieser genauso wie sein Vorgänger agieren wird, ist eher unwahrscheinlich. Erdogan könnte daher mit diesen politischen Zügen darauf hoffen, dass er kurdische Stimmen für sich generieren kann, ohne dabei kulturelle Rechte vergeben zu haben, die die rechtsextremen Koalitionspartner verärgern könnten.
Neuer Außenminister wurde Hakan Fidan, Ex-Geheimdienstchef, der auch die Friedensgespräche mit der PKK führte, die letztendlich scheiterten. Fidan hatte vor seiner politischen Laufbahn bei der NATO gearbeitet und dürfte nun die türkischen Ansichten in der Kurdenfrage deutlicher nach außen tragen. Erdogan dürfte sich von Fidan erhoffen, dass dieser die türkischen Anliegen bei den westlichen Partnern der Türkei besser zur Geltung bringen kann. In Syrien führt die Türkei Krieg gegen die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) und hat dabei große Teile des Landes besetzt. Eine politische Verwaltung an ihren Grenzen, an der auch Kurden beteiligt sind, ist für die türkische Regierung ein Horrorszenario. Jedoch sind die Ansichten diesbezüglich im Westen unterschiedlich. Die USA operieren mit den Streitkräften der Region, der SDF, gegen den IS, während die Türkei die SDF weiterhin bekämpft. Hakan Fidan dürfte hier Druck auf den Westen ausüben und jeglichen Selbstverwaltungswunsch von Kurden stärker bekämpfen.
Allem Anschein nach wird die türkische Regierung mittels des neuen Kabinetts und der politischen Gehilfen wie die Hüda-Par eine neue Kurdenpolitik starten, während sie zugleich den von ihr unabhängigen politischen Willen von Kurden weiterhin bekämpfen wird, im Inland und auch im Ausland. Es ist jedoch weiterhin unvorstellbar, dass die türkische Regierung den Kurden gesetzliche Rechte zusichert.