Warum wählen im Ausland so viele Erdogan?

Seit den Türkei-Wahlen am 14. Mai wird in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Staaten darüber diskutiert, wieso so viele Menschen Erdogan und seine Partei AKP oder deren rechtsextremen Koalitionspartner MHP wählen. Der Vorwurf dabei lautet oft: Wieso wählen Menschen aus einer Demokratie heraus die Autokratie? Dabei gab es diese Diskussionen bereits bei den Wahlen im Jahr 2018, als es zu ähnlichen Ergebnissen kam.

Im Ausland kommt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan auf deutlich mehr Stimmen als in der Türkei, vor allem in europäischen Ländern mit einer bedeutenden Bevölkerung, die aus der Türkei stammt. In Deutschland und Frankreich konnte Erdogan seine Stimmen sogar leicht steigern und kam in beiden Ländern auf knapp 65 % der Stimmen. In Belgien und Österreich konnte er sogar 72 % generieren und in der Niederlande 68 %.

Bevor mögliche Ursachen erörtert werden, muss an dieser Stelle gesagt werden, dass die Wahlbeteiligung im Ausland bei etwas mehr als 50 % lag und Menschen mit Wurzeln in der Türkei, aber ohne türkischen Pass, nicht inbegriffen sind. Wie repräsentativ die Ergebnisse für die gesamte Community der Menschen mit Wurzeln in der Türkei sind, muss also mit anderen Mitteln untersucht werden, jedoch können diese Ergebnisse als repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung im Ausland angesehen werden.

Zunächst ist ein Blick auf die Zusammensetzung der Communities erforderlich. Die mitteleuropäischen Länder haben alle eine gemeinsame Einwanderungsgeschichte, die von der Arbeitsmigration aus der Türkei nach Europa geprägt ist. Es waren vornehmlich Menschen aus ärmeren und ländlichen Verhältnisse der Türkei, die nach Europa wegen der Arbeit emigrierten und später ihre Familien nachholten. Besonders aus Anatolien und der Schwarzmeerregion zogen viele nach Europa. Die meisten dieser Menschen hatten keine höhere Bildung erfahren und kamen aus konservativ geprägten Familien.

Später in den 1980er und 1990er Jahren wurden diese Communities durch die politischen Geflüchteten, vor allem Kurden und Linke, erweitert.

Viele Eingewanderte machten sich zunächst keine Gedanken über Integration, denn die meisten kamen als sogenannte ‘Gastarbeiter’. Doch je länger die Zeit verging, desto eher wurden sie sesshaft. Die Kultur und Gebräuche blieben ohne sich wirklich an das Land anzupassen.

Doch mit der Sesshaftigkeit wurden auch nach und nach politische Ansichten aus dem Heimatland importiert. In den 1970er Jahren schon verbreitete sich die islamistische ‘Milli Görüş’ von Erbakan auch unter den Arbeitsmigranten, die schon bald Moscheen und Begegnungsstätten zur Verfügung stellten.

Zu der Zeit erlebte der Islam in der verfassungsrechtlich laizistisch ausgerichteten Türkei eine Renaissance und die Politisierung der Religion kam auch in Europa an. In Deutschland wurde 1984 die DITIB e.V. gegründet, womit der türkische Staat fortan direkten Einfluss auf die muslimisch-türkische Community ausüben konnte. Seit 1984 fungiert die DITIB als Organ des türkischen Staates in Deutschland und soll sich um die Belange der türkischen Muslime in Deutschland kümmern. Bei der Gründung konnte die DITIB mehr als 200 Vereine in Westdeutschland aufweisen. Mittlerweile sind es mehr als 900 Vereine, die in der Regel Moscheen darstellen. In anderen westeuropäischen Ländern übte der türkische Staat einen ähnlichen Einfluss auf ihre türkischen Communities aus, ohne dass die europäischen Länder dagegen intervenierten. Seit 2002 ist die AKP und seit 2003 Erdogan ununterbrochen an der Macht. In den 20 Jahren wurde nicht nur in der Türkei, sondern auch im Ausland umstrukturiert. Die DITIB untersteht mittlerweile direkt dem türkischen Präsidenten Erdogan und wird als ‘verlängerter Arm’ der türkischen Regierung in Deutschland bezeichnet. Zuletzt recherchierte das öffentlich-rechtliche Sendeformat ‘Monitor’ zum Wahlkampf der AKP in Deutschland und stellte fest, dass die DITIB-Gemeinden immer wieder Abgeordnete der AKP als Redner einluden. Über die DITIB-Gemeinden, aber auch über die übrig gebliebenen Gemeinden der ‘Milli Görüş’ übt der türkische Staat mit Erfolg massiven Einfluss auf die türkische Community aus. Darüber hinaus bieten die staatlichen Strukturen dieser Einrichtungen für die Wahlen einen Vorteil. Die organisatorischen und finanziellen Vorteile dieser Strukturen wurden auch bei diesen Wahlen genutzt. Kostenlose Shuttle-Services direkt von der Moscheegemeinde zu den Wahllokalen in Deutschland waren eines dieser Mittel. Während die AKP also gezielt die staatlichen Strukturen in Deutschland ausnutzen konnte, gab es diese Möglichkeit für die Opposition nicht.

Darüber hinaus sind auch die Medien ein wichtiger Faktor. Die türkische Community in Deutschland nutzt in großen Teilen bis in die dritte und vierte Generation hinein immer noch die Medien aus dem Heimatland. Diese sind jedoch relativ einseitig. Die meisten Medien in der Türkei sind gleichgeschaltet worden. Das beste Beispiel dafür war, als am letzten Wahlkampftag der Türkei Erdogan und sein Herausforderer Kilicdaroglu gleichzeitig ihre letzten Ansprachen hielten. Während Kilicdaroglus Rede nur von einem Sender ausgestrahlt wurde, sendete der Rest gleichzeitig die Rede von Erdogan. Ein weiteres Problem sind Verschwörungstheorien und Fake-News, die immer wieder von AKP-Politikern selbst oder von regierungsnahen Medien verbreitet werden.

Ferner hat Erdogan es verstanden, die türkische Community in Europa größtenteils für sich zu gewinnen, indem er die realen ausländerfeindlichen Ressentiments und die vermeintlich gefühlte Ausländerfeindlichkeit bei den Türken selbst ausspielt. Im Gedächtnis geblieben ist seine Wahlkampfrede in Deutschland im Jahr 2014 vor 15000 Menschen, wo er den Europäern die Assimilation der türkischen Gesellschaft vorwarf und sich als ihren Beschützer inszenierte. Immer wieder wirft die AKP-Regierung und Erdogan den europäischen Regierungen eine Islamfeindlichkeit vor, was hierzulande von vielen Menschen aus der Türkei auch so aufgefasst wird.

Ein weiterer Punkt ist, dass mittlerweile viele türkischstämmige Wähler eine Art automatisierter Resilienz gegenüber allen Positionen außerhalb, die von Erdogan und der AKP, aufgebaut haben. Jegliche Erklärungsversuche werden von vielen Befürwortern von Erdogan mit verschiedenen Begründungen, die dem politischen Repertoire der türkischen Regierung entstammen, abgeblockt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es viele Gründe für dieses Wahlverhalten gibt. Es ist nicht verwunderlich, dass viele Menschen, die aus den Hochburgen der AKP und MHP wie z.B. das zentrale Anatolien oder der Schwarzmeerregion stammen, hierzulande auch dasselbe Wahlverhalten aufzeigen. Die europäischen Staaten selbst haben dazu beigetragen, dass ihre eigene Bevölkerung mit Wurzeln in der Türkei vom türkischen Staat beeinflusst werden können, wie das Beispiel von DITIB bestens aufzeigt. Die Zusammensetzung der Bevölkerung spielt auch an anderer Stelle eine gewichtige Rolle. In Großbritannien votierten 80 % und in der Schweiz 57 % der Wähler gegen Erdogan. In beiden Ländern stellen jedoch zumeist geflüchtete Kurden und Aleviten, auf die der türkische Staat kaum Einfluss nehmen konnte, die Mehrheit, und zugleich war die türkische Arbeitsmigration in diesen Ländern kaum existent.

Doch es wäre verkürzt, dieses Wahlverhalten auf die Integrationsfrage zu reduzieren und dabei auf die Verfehlungen beider Seiten zu zeigen. Denn mittlerweile stimmen sehr viele Menschen, egal ob “integriert” oder nicht, im vollen Bewusstsein für Erdogan und die AKP. Sie wissen, dass das Land autokratisch regiert wird und sie wissen auch, dass Demokratie nicht nur Wählen bedeutet. Daher ist der Vorwurf, aus einer Demokratie heraus für Autokratie zu wählen, zu kurz formuliert. Denn auch in einer Demokratie kann man für die Autokratie stimmen, egal ob es sich dabei um AKP-Wähler oder AfD-Wähler handelt.

 

 

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