Gewinner und Verlierer der Türkei-Wahlen

Am 14. Mai wurde in der Türkei ein neues Parlament gewählt, während zugleich die Präsidentschaftswahlen nicht entschieden werden konnten, da kein Kandidat die nötige absolute Mehrheit von 50,0 % überschreiten konnte. Dadurch wird der Präsident in einer Stichwahl am 28. Mai gewählt.

Geheimer Sieger der Präsidentschaftswahlen

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan konnte bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen jeweils die absolute Mehrheit der Stimmen generieren. In der Türkei wird erst seit 2014 der Präsident direkt vom Volk gewählt. Mit dem Verfassungsreferendum von 2017 ging die Türkei in ein Präsidialsystem über, wodurch der Präsident zum Chef der Regierung und Oberhaupt des Staates wurde.
Insofern verfehlte Staatspräsident Erdogan zum ersten Mal die absolute Mehrheit der Stimmen. Im Vergleich zu den letzten Wahlen sank der Stimmenanteil von Erdogan von 52,6 % auf 49,4 %, womit er nur ganz knapp die absolute Mehrheit verfehlte. Sein Kontrahent Kemal Kilicdaroglu kam auf 45,0 % und Sinan Ogan auf 5,3 % der Stimmen. Bei den meisten Umfragen vor den Wahlen wurde ein knapper Sieg Kilicdaroglus prognostiziert. Nun kommt es zu einer Stichwahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu.
Sinan Ogan, Kandidat eines ultra-nationalistischen Bündnisses, kam unerwartet auf 5,3 % der Stimmen und damit deutlich mehr als die prognostizierten 1-2 %. Ogan gilt dadurch als geheimer Sieger der Wahlen, da auch nun beide Blöcke auf seine Stimmen am 28. Mai angewiesen sein werden. Ogan, ehemaliger Abgeordneter der rechtsextremen MHP im Parlament, signalisierte bereits, dass “nationalistische Werte” auf seiner Agenda sein werden.

Politische Konstellation und Zusammensetzung der Bündnisse

Bei den Parlamentswahlen traten dieses Mal fünf Bündnisse sowie einige Kleinparteien an. Vor 2018 traten in der Türkei die Parteien in der Regel alleine an, doch mit den Parlamentswahlen von 2018 änderte sich dieses Verhalten.
Die ‘Volksallianz’ (Cumhur İttifakı), der auch Staatspräsident Erdogan angehört, wurde bei den diesjährigen Wahlen um zwei Parteien erweitert.
Die ‘Volksallianz‘ wird von folgenden Parteien gebildet:

AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), islamisch-rechtskonservativ
MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), nationalistisch-rechtsextrem
BBP (Partei der Großen Einheit), nationalistisch-rechtsextrem
YRP (Neue Wohlfahrtspartei), islamistisch-konservativ
Hüda-Par (Partei der Freien Sache), kurdisch-islamistisch

Neben der AKP, MHP und der BBP traten die YRP und die Hüda-Par dem Bündnis bei. Die YRP spaltete sich 2018 von der SP (Partei der Glückseligkeit) ab und wird vom Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten der Türkei, Necmettin Erbakan, angeführt. Necmettin Erbakan gilt als Ziehvater von Erdogan.
Der Beitritt der islamistischen Hüda-Par in das Bündnis wurde heftig diskutiert. Die mehrheitlich kurdische Hüda-Par gilt als die politische Nachfolgeorganisation der illegalen ‘Hizbullah’ (Partei Gottes), die in den 90er und 00er Jahren etliche Menschen und Kontrahenten hinrichten ließ. Die Kurzbezeichnung ‘Hüda-Par’ bedeutet genauso wie ‘Hizbullah’, Partei Gottes. Erdogan bezeichnete die Hüda-Par als eine “nationale Partei”. Die Grundausrichtung des Bündnisses ist islamistisch-rechts.

Der ‘Volksallianz’ gegenüber stand das ‘Bündnis der Nation’ (Millet ittifakı), das Kemal Kilicdaroglu als Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen aufstellte. Das Bündnis besteht aus folgenden Parteien:

CHP (Republikanische Volkspartei), kemalistisch-säkular
İYİ (Gute Partei), nationalistisch-rechts
DP (Demokratische Partei), liberalkonservativ-nationalistisch
SP (Partei der Glückseligkeit), islamistisch-konservativ
GP (Zukunftspartei), liberal-konservativ
DEVA (Partei für Demokratie und Wohlstand), liberal-konservativ

Die GP und die DEVA traten erst in diesem Jahr dem Bündnis bei und sind Abspaltungen der regierenden AKP. Ihre Vorsitzenden waren unter der AKP Ministerpräsident und stellvertretender Ministerpräsident in der Türkei. Ein Teil der SP spaltete sich zur YRP ab und trat dem Bündnis von Erdogan bei. Das Bündnis der Nation vereint viele verschiedene politische Richtungen, wobei die ausschlaggebenden Richtungen Kemalismus und Säkularismus sind.

Daneben gab es als nennenswertes Bündnis noch das ‘Arbeits- und Freiheitsbündnis’, das aus zwei Parteien für diese Wahlen geformt wurde:

YSP (Grüne Linke Partei), prokurdisch-links
TİP (Arbeiterpartei der Türkei), sozialistisch-marxistisch

Die YSP besteht seit 2012, wurde jedoch erst im Kontext dieser Wahlen bedeutsam. Die HDP (Demokratische Partei der Völker) trat bei diesen Wahlen auf der Liste der YSP auf, damit sie ein Parteiverbot und damit eine politische Sperre kurz vor den Wahlen umgehen kann. Die HDP steht, wie schon ihre Vorgänger, einem Parteiverbotsverfahren gegenüber. Hunderte ihrer Funktionäre, Abgeordnete und Bürgermeister sind inhaftiert.
Die TIP kandidierte 2018 auf der Liste der HDP und entschloss sich dieses Mal, mit einer eigenen Liste unter dem Bündnis anzutreten. Das Bündnis ist links und auf Minderheitenrechte ausgerichtet.

Parlamentarische Mehrheit trotz Verlusten für Erdogan-Bündnis

Das türkische Parlament besteht aus 600 Sitzen. Die ‘Volksallianz’ kommt auf 49,5 % der Stimmen, womit sie im Parlament 321 Sitze ergattern und damit die nötige Mehrheit von 301 Abgeordneten bekommt. Im Vergleich zu den Vorwahlen büßte die ‘Volksallianz’ 4,2 % und 23 Abgeordnete ein. Die AKP verlor erneut knapp 7 % der Stimmen. Seit 2015 sank der Stimmenanteil der AKP kontinuierlich von 49,5 % auf 35,6 %. Die MHP musste auch erneut Verluste hinnehmen und kam auf knapp 10,1 % der Stimmen. Die YRP kam vom Stand auf 2,83 % und konnte dank der Bündnisregelung 5 Abgeordnete ins Parlament schicken. Daneben entsandte die Hüda-Par über die Listen der AKP insgesamt vier Abgeordnete ins Parlament. Eine weitere Besonderheit war, dass die ‘Volksallianz’ in den Erdbebengebieten mit teils über 70 % die mit Abstand stärkste Kraft war. Im Vorfeld der Wahlen wurde das verheerende Erdbeben vom 6. Februar und die Ereignisse danach als mögliche Zäsur in der traditionellen Herrschaft der AKP-MHP in diesen Gebieten angesehen.

CHP schickt 23 Abgeordnete mehr ins Parlament

Das oppositionelle ‘Bündnis der Nation’ kam auf 35 % der Stimmen. Die CHP konnte als einzige größere Partei ihre Stimmen vermehren, was ihnen einen parlamentarischen Mehrwert von 23 Abgeordneten brachte. Unter anderem konnte die CHP im kurdisch geprägten Südosten der Türkei ihre Stimmen vermehren. In der Millionenmetropole Diyarbakır (kurd. Amed) schaffte sie erstmals nach 21 Jahren wieder einen Abgeordneten zu entsenden.
Das ‘Bündnis der Nation’ steigerte die Abgeordnetenzahl von 189 auf 213. Einzig die CHP und die İYİ traten mit eigenen Listen an. Die restlichen vier Parteien entsandten Abgeordnete über diese Listen ins Parlament.

YSP trotz Verlusten und Sonderbedingungen stärkste Kraft im Südosten

Das ‘Arbeits- und Freiheitsbündnis’ kam landesweit auf 10,5 % der Stimmen. Die YSP entsendet mit 8,8 % der Stimmen 62 Abgeordnete ins Parlament, während die TIP auf 1,73 % kommt und 4 Abgeordnete nach Ankara schicken kann. Dabei profitierte die TIP genauso wie die YRP von der Bündnisregelung. Die HDP, die sich innerhalb der YSP reorganisieren musste, kam bei den letzten Wahlen auf 11,7 % der Stimmen. Im Südosten der Türkei wurde erneut unter erschwerten Bedingungen gewählt. Die Polizei- und Militärpräsenz war vielerorts allgegenwärtig. Außerdem wurde seitens der YSP Einspruch bezüglich vieler unstimmiger Auszählungen eingelegt. In mehreren Fällen wurden die mehrheitlichen Stimmen der YSP, der AKP oder der MHP bei der höchsten Wahlbehörde der Türkei zugeschrieben.
Insgesamt verlor die YSP fast überall an Stimmen, wurde aber in 13 Provinzen der Türkei, allesamt im kurdisch geprägten Südosten, stärkste Partei.
Vor der Wahl sprach sich die HDP für eine einzige gemeinsame Liste mit der TIP aus, was diese jedoch ablehnten. Laut Berechnungen verlor das Bündnis dadurch einige potenzielle Abgeordnete.

Wer hat gewonnen, wer hat verloren?

Die Wahlen in der Türkei haben keinen klaren Gewinner hervorgebracht. Zwar haben Erdogan und die AKP wieder die meisten Stimmen erhalten, jedoch konnte Erdogan nicht wie erhofft im ersten Wahlgang gewählt werden und die AKP musste mehr als 20 Abgeordnete an die Opposition abtreten. Dennoch besitzt die ‘Volksallianz’ um die AKP weiterhin die alleinige Mehrheit im Parlament.
Doch auch für die Opposition ist das kein Sieg. Denn auch die Opposition um Kilicdaroglu erhoffte sich einen Sieg im ersten Wahlgang, was von den meisten Umfragen auch prognostiziert wurde. Stattdessen wurde die absolute Mehrheit klar verfehlt, auch wenn die Umstände und das Klima der Wahlen klar für die Regierung ausgelegt waren. Einziger Wermutstropfen für die CHP ist, dass sie nun stärker vertreten sind im Parlament. Die Opposition um Kilicdaroglu wird mit den Wahlen am 28. Mai stehen oder fallen.
Das ‘Arbeits- und Freiheitsbündnis’ um die YSP und TIP konnten zwar die Anzahl der Abgeordneten wahren, mussten aber prozentual Einbußen hinnehmen. Auch sie blieben klar hinter ihren eigenen Erwartungen zurück.
Die Sieger der Wahlen waren die kleinen Parteien und der dritte Präsidentschaftskandidat Sinan Ogan. Während der Ultranationalist Sinan Ogan unerwartet auf mehr als 5 % kam und nun das Zünglein an der Waage sein kann, konnten die Kleinparteien dank der Bündnisregelung ins Parlament einziehen. Die islamistische YRP entsendet künftig 5 Abgeordnete ins Parlament. Ihr Vorsitzender will laut eigenen Aussagen die Frauenrechte einschränken und die islamische ‘Unzucht’ per Gesetz verbieten lassen. Die Hüda-Par entsendet über die Listen der AKP vier Abgeordnete ins Parlament. Zwar fordert die islamistische Hüda-Par auch mehr Minderheitenrechte für die Kurden im Land, doch gleichzeitig forderte ihr Vorsitzender auch Kinderehen nicht zu kriminalisieren.
Die kommunistische TIP konnte dank den Stimmen der YSP im Bündnis 4 Abgeordnete entsenden. Vor den Wahlen spekulierte man sogar darauf, dass man die Wahlhürde alleine überwinden könnte.
Darüber hinaus konnten über die Listen der CHP und IYI die restlichen vier Parteien des ‘Bündnis der Nation’ Abgeordnete ins Parlament senden.

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