Selahattin Demirtas: Königsmacher der Türkei-Wahlen?

Am 14. Mai finden in der Türkei die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. 85 Millionen Menschen im Land sowie Millionen im Ausland fiebern diesem Tag entgegen. Die Stimmung im In- und Ausland ist angeheizt. Es kam im Vorfeld der Wahlen bereits zu mehreren, zum Teil gewalttätigen Vorfällen, von denen in der Regel Anhänger der Oppositionsparteien betroffen waren.

Seit 20 Jahren herrscht die AKP und Erdogan

Seit nun schon 21 Jahren herrscht in der Türkei dieselbe Partei. Die ‘Adalet ve Kalkınma Partisi’ (AKP), türkisch für Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, ist seit 2002 für die politischen Geschicke der Türkei verantwortlich. Ihr Vorsitzender Recep Tayyip Erdogan war von 2003 bis 2014 Ministerpräsident der Türkei und ist seit 2014 Staatspräsident. Noch nie zuvor regierte ein Politiker so lange und ununterbrochen in der Türkei. 2017 wurde in der Türkei unter einer höchst umstrittenen Volksabstimmung die Verfassung zugunsten eines Präsidialsystems abgeändert, so dass der Präsident mehr Machtbefugnisse bekam. Aus diesem Grund ist bei den türkischen Wahlen die Wahl zum Präsidenten bedeutsamer als die Parlamentswahlen.

Wer sind die Präsidentschaftskandidaten?

In der Türkei stehen vier Präsidentschaftskandidaten zur Wahl: Der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (AKP), Kemal Kilicdaroglu von der Republikanische Volkspartei (CHP), Muharrem İnce von der neugegründeten Heimatspartei (MP) und der parteilose Sinan Ogan vom ‘ATA-Bündnis’.

Recep Tayyip Erdogan ist der gemeinsame Kandidat von sechs rechtspopulistischen, rechtsextremen sowie islamistisch-konservativen Parteien.

Kemal Kilicdaroglu ist ein gemeinsamer Kandidat von mehr als zehn Parteien mit unterschiedlicher politischer Richtung.

Muharrem İnce ist der ehemalige Präsidentschaftskandidat der CHP, der bei den Wahlen 2018 antrat. Nach langem Disput trat er 2020 aus der CHP aus und gründete 2021 seine eigene Partei, für die er nun antritt.

Sinan Ogan ist ehemaliger Abgeordneter der rechtsextremen Partei ‘Partei der Nationalistischen Bewegung’ (MHP), die inzwischen Koalitionspartner der AKP ist. 2017 wurde er nach anhaltender Kritik aus der Partei ausgeschlossen und ist nun ein gemeinsamer Kandidat von einer Reihe von ultra-nationalistischen Parteien.

Auch wenn vier Kandidaten zur Auswahl stehen, wird ein enges Rennen zwischen Erdogan und Kilicdaroglu erwartet.

Schwere Krise und ungelöste Probleme

Die Türkei erlebt eine beispiellose sowie historische wirtschaftliche Krise, die durch Rekordinflation sowie immer schwächer werdender Währung gekennzeichnet ist. Durch das verheerende Erdbeben am 6. Februar, wovon elf Provinzen der Türkei betroffen waren, hat sich die Krise weiter verschärft. Darüber hinaus gibt es weiterhin ungelöste innenpolitische Probleme, die innerhalb der Bevölkerung ihre Spuren hinterlassen.

Da wäre zum einen die Flüchtlingsproblematik im Land. Die Türkei hat in absoluten Zahlen gemessen, weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Die größte Gruppe der Flüchtlinge stellen die Syrer, die zu einem zentralen Element des Wahlkampfs geworden sind. Die derzeitige Regierungskoalition aus AKP-MHP wird für die hohen Zahlen verantwortlich gemacht und beschuldigt, die Türkei mittels dieser Flüchtlinge weiter zu islamisieren sowie die demografische Zusammensetzung der Türkei zu ändern.

Zum anderen wäre da die sogenannte ‘Kurdenfrage’. Die Kurden sind die größte ethnische Minderheit der Türkei, die je nach Schätzung zwischen 20 – 30 % der Bevölkerung ausmachen und historisch im Südosten der Türkei beheimatet sind. Die Partei, die die größte Zustimmung unter der kurdischen Bevölkerung erhält, ist die Demokratische Partei der Völker (HDP), die jedoch wie schon ihre Vorgänger in der Türkei kriminalisiert wird. Tausende ihrer Mitglieder und Vertreter, darunter gewählte Abgeordnete und Bürgermeister, sind im Gefängnis. Um ein kurzfristiges Verbot und damit einen Ausschluss vor den Wahlen zu umgehen, organisierte sich die HDP in der ‘Grünen Linkspartei’ (YSP) wieder.

Selahattin Demirtas: Geheimer Präsidentschaftskandidat

Einer von den Tausenden inhaftierten Mitglieder und Politiker der HDP ist Selahattin Demirtas. Selahattin Demirtas wurde 2014 zum Ko-Vorsitzenden der HDP gewählt. Im selben Jahr wurde er Präsidentschaftskandidat und erzielte knapp 10 % der Stimmen. 2015 erreichte die HDP bei den Parlamentswahlen 13,1 % der Stimmen und durchbrach damit die Alleinherrschaft der regierenden AKP. 2016 wurde Demirtas aufgrund von politischen Anschuldigungen gemeinsam mit mehreren anderen Politikern und Bürgermeistern der HDP inhaftiert. Fast alle der 106 gewählten Bürgermeister der HDP wurden abgesetzt und stehen bis heute noch unter Zwangsverwaltung des türkischen Staates. 2018 stellte die HDP Demirtas erneut als Präsidentschaftskandidaten auf, obwohl er sich weiterhin in U-Haft befand.

Infolge seiner Inhaftierung wuchs die Popularität von ‘Selo’, wie er im Volksmund genannt wird, an. Mittlerweile ist er für die kommenden Wahlen ein unverzichtbarer Bestandteil geworden. Täglich verfolgen Millionen Menschen durch die sozialen Netzwerke und vor allem durch Twitter, was Demirtas postet. Mit teils sarkastischen und ironischen Tweets schaltet er sich mittels seiner Anwälte immer wieder in den Wahlkampf ein. Seine Popularität wird auch an den in der Türkei auf sozialen Medien beliebten Straßenumfragen deutlich. Auf die Frage “Wer ist euer Präsidentschaftskandidat bei den kommenden Wahlen?”, antworten viele der Teilnehmer mit Absicht und in Solidarität mit “Selahattin Demirtas”.

Demirtas als Königsmacher und Ende der Erdogan-Herrschaft?

Die Wahlprognosen in der Türkei sind nicht eindeutig, auch wenn vielerorts erwartet wird, dass Erdogans 20-jährige Herrschaft sich dem Ende neigt. Viele Diskussionen in der Türkei drehten sich um die Frage, wen die Kurden wählen werden, da ihre Stimmen wahlentscheidend sein können. Zumindest für die kurdische Wählerschaft der HDP scheint diese Frage endgültig geklärt worden zu sein. Die HDP verzichtete im März auf einen eigenen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen, was von Demirtas begrüßt wurde.

Am 3. Mai sprach dann Demirtas eine eindeutige Wahlempfehlung aus. Er veröffentlichte ein Bild von Kilicdaroglu mit dem Symbol der Präsidentschaft und schrieb dazu: “Sehr geehrter 13. Staatspräsident der Türkei, Herr Kilicdaroglu, segne Gott euren Weg. Ich glaube mit ganzem Herzen daran, dass sie die Trennung beenden, den gesellschaftlichen Frieden herbeiführen und der Türkei Frieden und Wohlstand bringen werden. Meine Stimme gehört dir, lieber Staatspräsident Kilicdaroglu”.

Die Grüne Linkspartei (YSP) beschloß ebenfalls ihre Unterstützung für Kilicdaroglu, der im Vorfeld der Wahlen versprach, die Zwangsverwaltung in den Kommunen aufzuheben und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen (EGMR). Das EGMR hatte bereits 2020 die Inhaftierung von Demirtas und vielen anderen HDP’lern als “politische Inhaftierung” bezeichnet und ihre sofortige Freilassung angeordnet. Jedoch widersetzt sich Erdogan den verbindlichen Entscheidungen des EGMR’s, wodurch Demirtas de facto als politische Geisel festgehalten wird.

Die Millionen Stimmen der Wählerschaft der HDP und die aktive “Eine Stimme für Kilicdaroglu – eine Stimme für die YSP”-Kampagne von Demirtas könnten tatsächlich wahlentscheidend sein. Bei den letzten Kommunalwahlen wurde in den beiden größten Städten der Türkei, in Istanbul und in Ankara, jeweils der Bürgermeister von der CHP aufgestellt, wobei aber Demirtas und HDP für ihre Wahlen plädiert hatten. Die politischen Beobachter aller Richtungen waren sich einig, dass dies ohne die Unterstützung der Stimmen der Wählerschaft von HDP unmöglich gewesen wäre. Nun steht der Türkei erneut ein ähnliches Szenario bevor. Die YSP ist kein Teil des Bündnisses, das Kemal Kilicdaroglu unterstützt und die HDP wird selbst innerhalb dieses Bündnisses ausgeschlossen. Es bleibt die Frage, ob am Ende die Unterstützung für Kilicdaroglu zwar die Herrschaft Erdogans beendet, aber die Kriminalisierung der pro-kurdischen Politik weiterhin bestehen wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das könnte dir auch gefallen