Interview mit Filmregisseur Reber Dosky über „Daughters of the Sun“: „Wir haben das ezidische Volk im Stich gelassen“

Im August 2014 wurde die überwiegend von Eziden bewohnte Provinz Sindschar im Süden der Autonomen Region Kurdistan von der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) angegriffen. Der Überfall, bei dem Tausende ezidische Männer und Jungen hingerichtet und Tausende von Frauen und Mädchen entführt und als Sexsklaven verkauft wurden, ging als Völkermord von Sindschar in die Geschichte ein. Viele Frauen, die die Versklavung durch den IS überlebt haben, versuchen immer noch, die Wunden des Völkermords zu heilen.

Reber Dosky, ein in den Niederlanden lebender kurdischer Filmregisseur, drehte „Daughters of the Sun“, einen Dokumentarfilm über den Verarbeitungsprozess ezidischer Frauen, die die Gefangenschaft des IS überlebt haben. Am 25. März findet in Den Haag die Weltpremiere des Dokumentarfilms statt, der zeigt, wie eine Gruppe ezidischer Frauen und Mädchen, die sich in einem Flüchtlingslager zusammengefunden haben, um mit Unterstützung des Theaterschauspielers Hussein ihre Zukunft aufzubauen. Der Dokumentarfilm ist für den Dutch Movies That Matter Award nominiert.

‘Daughters of the Sun’ ist nicht das erste nominierte Werk von Reber Dosky. Zwei nominierte Dokumentarfilme des Filmemachers wurden ausgezeichnet: 2016 erhielt er den IDFA Award für den besten Dokumentarfilm sowohl für „Radio Kobani“ als auch für „Sidik und der Panther“ 2019. Der preisgekrönte Regisseur Reber Dosky beantwortete unsere Fragen zu seinem Dokumentarfilm.

Warum haben Sie sich entschieden, einen Dokumentarfilm über ezidische Frauen zu drehen?

IS-Kämpfer verübten einen Großangriff auf die ezidische Gemeinde im Sindschar. Mehrere ältere Männer und Frauen wurden abgeschlachtet. Sie entführten Kinder und junge Mädchen und benutzten sie als Sexsklaven. 2015 lernte ich eines dieser Mädchen kennen. Sie ist allein aus den Händen des IS geflohen. Ihre Geschichte führte zum Kurzfilm „Yazidi Girls”, der 2016 veröffentlicht wurde.

Die Geschichte der drei Mädchen in „Yazidi Girls“ und ihrer tausenden Mitleidenden haftete immer an mir. Ich wollte sofort etwas mit Spielfilmlänge darüber drehen, aber dafür war es noch zu früh. Sie haben noch Zeit gebraucht, um die rauesten Kanten ihres Traumas glätten zu können. Währenddessen blieb ich in Kontakt mit weiteren befreiten jungen Frauen und Kindern. Wir arbeiteten zusammen, um ihr Vertrauen zu fördern.

Können Sie diesen Prozess beschreiben?

Ich finde es besonders, dass diese Frauen mich in ihr Leben gelassen und an dieses Projekt geglaubt haben. Sie alle haben den Glauben an ihre Mitmenschen verloren, was nach allem, was ihnen widerfahren ist, durchaus verständlich ist. Der IS versuchte, das ezidische Volk, vor allem die Frauen, zu entmenschlichen, aber es gelang ihnen nicht. Für mich ist dieser Film anders als meine vorherige Arbeit. Ich war mir der Tatsache bewusst, dass diese Frauen Außergewöhnliches durchgemacht hatten, dass der Schmerz und die Trauer sehr tief waren.

Wie waren die Charaktere des Dokumentarfilms an Ihrem Projekt beteiligt?

Durch verschiedene Kontakte lernte ich Hussein, einen Schaffenden am Theater, kennen. Er setzt sich freiwillig für die befreiten Frauen ein. Er ist eine Art Brücke zwischen Gesellschaft und den Frauen. Durch ihn lernte ich die Charaktere des Films kennen. Lange Zeit konzentrierte ich mich darauf, Vertrauen aufzubauen und stellte ihnen keine Fragen. Ich erklärte, wie ich den Dokumentarfilm gestalten wollte und was mein Stil ist. Sie hatten schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht, die für einen Bericht unter die Haut gingen und deshalb waren sie vorsichtig. Ich habe deutlich gemacht, dass der Drehprozess drei Jahre dauern wird und dass mein Vorhaben anders sein wird. Wir haben angefangen zusammen Sachen zu machen, die Spaß gemacht haben. Damals habe ich auch mit Hussein zusammengearbeitet, dem die Frauen blind vertrauen. Es hat mir sehr geholfen, dass ich über Hussein Kontakt zu ihnen aufgenommen habe. Am Ende der Aufnahmen sagte Sarap: “Wir waren alle vorsichtig mit eurer Crew, weil ihr alle Männer wart, aber jetzt bin ich sehr traurig, dass es vorbei ist.”

Wie war es, mit Frauen zu arbeiten, die solch ein tiefes Trauma durchgemacht haben?

Es war nicht einfach, da ihre Wunden von Männern verursacht wurden. Zuerst waren sie distanziert, aber ich überstürzte nichts.
Wir mussten den Charakteren so viel Zeit geben, wie sie brauchen, um sich an uns zu gewöhnen. Das war auch ein Grund, warum ich nach ein paar Jahren anfing, den Dokumentarfilm zu drehen. Einige Frauen waren bereits dabei, ihr Trauma zu verarbeiten. Sie hatten bereits Einblick in ihr Leben und was mit ihnen geschehen war. Bei Anderen waren die Wunden noch zu tief, um es richtig erzählen zu können.

Mehrere Länder und internationale Organisationen haben den Völkermord an den Eziden anerkannt. Was denken Sie über diese Entwicklung?

Da es für das ezidische Volk von entscheidender Bedeutung ist, dass die erlittenen Qualen anerkannt werden, halte ich es für unerlässlich, dass alle Länder den Völkermord anerkennen. Es bietet auch Grundlagen, die Täter strafrechtlich zu verfolgen. Die Genozid-Konvention besagt, dass Täter von ihrem eigenen Land oder von einem internationalen Gericht bestraft werden müssen. Es fällt den Überlebenden schwer, Gerechtigkeit zu erfahren, wenn die Täter noch auf freiem Fuß sind.

Was halten Sie von der gegenwärtigen Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber dem ezidischen Volk?

Wir durchleben schwierige Zeiten, in denen viele Dinge schnell passieren, so dass es schwierig ist, sich auf nur ein Thema zu konzentrieren. Der Völkermord am ezidischen Volk wurde 2014 begangen. Wer spricht 2023 noch davon? Heute steht die Ukraine im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, was verständlich ist, denn der Krieg dort hat mehr Auswirkungen auf unser tägliches Leben.
Ich denke jedoch, dass wir alle das ezidische Volk im Stich gelassen haben. 3000 ezidische Kinder, Frauen und Männer werden derzeit noch vermisst. IS-Mitglieder, die aus Syrien in die Türkei geflohen sind, haben viele ezidische Kinder und Frauen gewaltsam mitgenommen. Leider gibt es keine Möglichkeit, in dieser Angelegenheit mit der türkischen Regierung zusammenzuarbeiten. Und in europäischen Ländern hören wir nichts mehr davon. Unabhängig davon, was wir denken, ist das einzige, was in den Niederlanden zu dem Thema geschieht, die Rückführung von IS-Frauen und ihren Kindern, aber ich glaube, dass die ezidische Gemeinschaft unsere Sorge und Unterstützung ebenfalls verdient.

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