Nachdem bekannt wurde, dass die Wahlen in der Türkei am 14. Mai stattfinden werden, haben die Diskussionen über einen unfairen und ungerechten Wahlprozess begonnen. Die Partei, die von dieser Ungleichheit am meisten betroffen ist, ist die linksgerichtete Partei der Völker (HDP), die sich insbesondere für die Minderheitenrechte in der Türkei einsetzt und dabei vor allem von der kurdischen Bevölkerungsgruppe des Landes große Unterstützung erfährt. Das Recht auf freie Wahlen unter Bedingungen, die die freie Meinungsäußerung des Volkes bei der Wahl der Legislative gewährleisten, wie es im Art. 3 des Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert wird und auch vom türkischen Staat ratifiziert wurde, gilt insbesondere nicht für die HDP. Der türkische Staat missachtet auch viele der im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR), einem von der UNO verabschiedeten Menschenrechtsvertrag, festgelegten Rechte. Während einerseits die HDP ihren juristischen Kampf gegen die seit Jahren andauernden Rechtsverletzungen fortsetzt, bereitet sie sich andererseits unter eingeschränkten Bedingungen auf die Wahlen vor. Im Folgenden gibt es eine Zusammenstellung der wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen die HDP:
Zensur und Restriktionen
Der Europarat stellt fest, dass die Freiheit der Medien und der Schutz des Rechts auf Information für einen demokratischen und fairen Wahlprozess unerlässlich sind. Die öffentliche türkische Rundfunkanstalt TRT und die Mainstream-Medien der Türkei verletzen jedoch den Grundsatz der Unparteilichkeit bei den Wahlen, indem sie ein Embargo gegen die HDP verhängen. Sie strahlen keine Wahlwerbung der HDP aus, laden kaum Abgeordnete zu ihren Live-Sendungen ein und konsultieren keine Parteivertreter, um Nachrichten zu überprüfen, die Behauptungen enthalten, die die Partei belasten. Der HDP-Abgeordnete Mahmut Togrul fasste diese Angelegenheit im Parlament mit den folgenden Worten zusammen: “Die AKP-Regierung hat die Medien vollständig unter ihre Kontrolle gebracht. Es gibt jetzt nur noch eine Stimme in den Medien. Zum Beispiel sind alle Schlagzeilen der großen Tageszeitungen gleich.”
Erpressung, Entlassungen und Parteischließungsverfahren
Gegen die HDP, die mit 56 Abgeordneten im Parlament die zweitgrößte Oppositionspartei ist, läuft seit dem März 2021 ein Schließungsverfahren. Während die Entscheidung, das Bankkonto der Partei einzufrieren, am 9. März aufgehoben wurde, ist das Schließungsverfahren noch nicht abgeschlossen. Im Zuge des Verfahrens wurden 48 von 65 gewählten Bürgermeister der HDP abgesetzt und durch vom Innenministerium abbestellte Zwangsverwalter ersetzt. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, Meral Danis Bestas, bezeichnete die rechtswidrigen Urteile als ‘politischen Genozid’ und äußerte sich in einer Presseerklärung im Parlament wie folgt zu dem Schließungsverfahren: “Dies ist eine Geschichte der Neutralisierung der Opposition. Die AKP hat bereits alle Verbindungen zum Gesetz gekappt. Ihre Geschichten sind Lügen, Täuschungen und Verschwörungen. Wir werden am 14. Mai auf das Schärfste antworten.”
Festnahme und Inhaftierung
Die ehemaligen HDP-Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ befinden sich seit November 2016 in Haft. Obwohl die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) für jeden Vertragsstaat des EMRK’s bindend ist, wies Präsident Erdoğan im Namen der türkischen Republik das Urteil des EGMR’s zur sofortigen Freilassung von Demirtaş ab. Laut einem von der HDP im Dezember 2019 erstellten Bericht wurden seit 2015 bei politischen Operationen gegen die Partei 15.530 Personen inhaftiert. Über 6.000 Personen, darunter 750 Mitglieder und Funktionäre, wurden festgenommen. Figen Yüksekdağ reagierte auf die willkürlichen Verhaftungen mit diesen Worten, als sie sich vor Gericht verteidigte: “Die Tatsache, dass die Entscheidung des EGMR nicht umgesetzt wurde, ist kein neuer Fall für die Türkiye. Es ist nicht länger ein juristisches Problem, sondern ein Problem des Landes geworden. Es ist zu einer politischen Verbohrtheit geworden. Sie haben uns ein Beispiel für schwarze Komödie gezeigt. Wir hatten Mitleid mit dem Rechtssystem, und dieses Mitleid bleibt.”
Aufhebung der Immunität
Im Jahr 2016 wurde die Immunität Dutzender HDP-Abgeordneter aufgehoben. Im Februar 2022 entschied der EGMR, dass die Türkei gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung verstieß, indem sie die parlamentarische Immunität von HDP-Abgeordneten aufhob und sie strafrechtlich verfolgte. Präsident Erdoğan hat jedoch nach dieser verbindlichen Entscheidung keine erforderlichen Schritte unternommen. Außerdem wurden der Liste der Abgeordneten, deren Immunität aufgehoben wurde, neue Namen hinzugefügt. Im vergangenen Jahr wurde auch die Immunität der HDP-Abgeordneten Semra Güzel aufgehoben. Einige Monate später wurde ihr der Parlamentssitz entzogen. Der HDP-Abgeordnete Rüştü Tiryaki äußerte sich in einem Interview mit der Zeitung Evrensel wie folgt:
“Ein großer Teil der Gesellschaft betrachtet dies als einen Schlag gegen die demokratische Politik. So versteht die Gesellschaft diesen Vorgang. Die Aufhebung der Immunität und die Aberkennung des Abgeordnetenstatus haben in der Erinnerung der Kurden eine viel tiefere Wunde. Seit der Demokratischen Partei (DEP) sehen die Kurden diesen Prozess als einen Angriff auf ihren Willen.”
Polizeigewalt und Unterdrückung
HDP-Wähler, -Mitglieder und -Abgeordnete waren unzählige Male Opfer von Polizeigewalt. Selbst als sich die HDP zu einer Presseerklärung vor ihrem Sitz versammelte, wurde sie von der Polizei angegriffen. Eines der jüngsten Beispiele für Polizeigewalt gegen einen Abgeordneten war im vergangenen Jahr: Während einer Demonstration brach die Polizei dem HDP-Abgeordneten Habip Eksik das Bein. Der HDP-Abgeordnete Musa Piroglu, der von der Polizei auf seinem Rollstuhl angegriffen wurde, obwohl er behindert ist, sprach mit der Zeitung Umut über die zunehmende Gewalt: “Dies zeigt, dass die Ressentiments, die Respektlosigkeit und die Rücksichtslosigkeit einen bestimmten Punkt erreicht haben. Es zeigt auch die Politik der Straflosigkeit, die hinter dieser Respektlosigkeit steht. Die Presse befindet sich in der Öffentlichkeit vor aller Augen. Wenn die Polizei diesen Angriff in einem so offenen Raum vor aller Augen, im Zentrum Istanbuls, durchführen kann, dann deshalb, weil sie die Gewissheit hat, dass sie ungestraft bleiben wird.”
Benachteiligung anderer Wahlparteien
Die HDP, die breite Unterstützung von der kurdischen Gemeinschaft erfährt und viele kurdische Abgeordnete hat, ist auch im Parlament Diskriminierungen ausgesetzt. Der Vorsitzende der mit der AKP verbündeten rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) forderte wiederholt die Schließung der HDP und beschuldigte sie, des “Terrorismus”. Andere rechtsgerichtete Parteien erklärten wiederholt, dass sie für einen Dialog mit der HDP nicht offen sind. Kürzlich erklärte die Vorsitzende der oppositionellen IYI-Partei, Meral Akşener, mit Nachdruck, dass die HDP niemals mit an den Tisch könne, wo sie auch sitzen würden. Gemeint war der Tisch des aus mehreren Parteien bestehenden Oppositionsblocks, die erst kürzlich nach inneren Auseinandersetzungen in der Person des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kilicdaroglu, den Herausforderer von Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen verkündeten. Wenige Tage nach dieser Erklärung veröffentlichte Selahattin Demirtaş einen offenen Brief, den er an Meral Akşener richtete. Eine der Fragen in diesem Brief war zugleich eine Antwort auf die Ausgrenzung der HDP und lautete wie folgt: “Obwohl die HDP erklärt hat, dass sie keine anderen Forderungen als die nach demokratischen Grundsätzen stellt, sagten Sie: ‘Die CHP kann einen Dialog mit der HDP aufnehmen, aber es können keine Zugeständnisse gemacht werden und ihre Forderungen können nicht an diesen Tisch gebracht werden.’ Betrachten Sie die Forderungen nach Demokratisierung als Zugeständnisse?”
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