- Der Vorsitzende für auswärtige Beziehungen der Selbstverwaltung in der Nord und Ostsyrien diskutiert die derzeitige humanitäre Lage und die potentiellen Bedrohungen, denen die Kurden sowohl durch die Türkei als auch durch das syrische Regime ausgesetzt sind.
Bedran Çiya Kurd ist der Vorsitzende der Abteilung für auswärtige Beziehungen der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien, einer de facto selbstverwalteten Region innerhalb Syriens, in der das US-Militär gemeinsame Sicherheitspatrouillen mit den Syrischen demokratischen Kräften SDF durchführt. Er sprach mit Cristina Maza darüber, ob der Krieg in Syrien enden wird, über die Beziehungen zwischen den Kurden und dem Nachbarland Türkei sowie der US Sicherheitskooperation mit SDF in Syrien.
Dieses Interview wurde aus Gründen der Länge und Klarheit bearbeitet.
Sie sind der oberste Diplomat der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien. Wie sind Sie in dieser Rolle gelandet?
Ich engagiere mich seit über 35 Jahren in der kurdischen politischen Bewegung. ich habe mich außerhalb Syriens befunden, weil mich die Sicherheitskräfte des syrischen Regimes im Visier hatten. Mitte der 1990er Jahre bis zum Beginn der Krise in Syrien war ich in der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Nachdem der Krieg in Syrien in vollem Gange war, kehrte ich nach Syrien zurück und begann mit meiner politischen Arbeit. Ich war einer der Mitbegründer der Autonomen Administration in den Gebieten Afrin und Jazira. 2018 wurde ich dann zum stellvertretenden Ko-vorsitzenden der Autonomen Administration ernannt. Meine Arbeit verrichte ich durch die Abteilung für auswärtige Beziehungen. Wir haben repräsentative Büros in vielen verschiedenen Ländern.
Ich verstehe, dass die Kurden in Nordsyrien mit einer kontinuierlichen Bedrohung durch die syrische Regierung in Damaskus oder der Türkei konfrontiert sind. Sehen Sie hier noch Verhandlungsspielraum mit einer dieser Regierungen?
Wir sind Syrer. Wir sind ein Teil Syriens. Und wir denken, dass alle Syrer und Syrerinnen eine führende Rolle für die Lösung dieser Krise einnehmen sollten. Auch wenn die Lösung für die Krise Syriens lange dauert, muss das syrische Regime schließlich die Forderungen des syrischen Volkes akzeptieren. Es sollte eine Verfassungsänderung geben. Die neue syrische Verfassung sollte die Rechte aller Gemeinschaften garantieren, einschließlich die des kurdischen Volkes. Wir wollen, dass Syrien dezentralisiert wird, damit jede Region das Recht hat, ihre eigene Politik, Kultur, Selbstverteidigung und Sicherheit zu bestimmen. Wir glauben daran, dass diese neue politische Struktur die syrische Regierung verändern würde, die für die Marginalisierung anderer Kulturen und anderer Gemeinschaften verantwortlich ist. Aber sowohl das syrische als auch das türkische Regime sind feindselig. Sie leugnen die legitimen Rechte unseres Volkes. Wir suchen immer den Dialog, um Konflikte mit dem syrischen oder dem türkischen Regime zu lösen.
Haben Sie Kommunikationswege mit der syrischen Regierung, um Ihre Vorschläge für eine Dezentralisierung zu diskutieren?
Das syrische Regime glaubt nicht an einen Dialog zur Lösung der Krise in Syrien. Aber nach der türkischen Offensive im Nordosten Syriens im Jahr 2019 haben wir einen Sicherheitsmechanismus mit der syrischen Regierung eingerichtet.
Die syrische Armee und die Russen sind in unsere Region eingedrungen. Gemeinsam haben wir uns zu Problemen an der Grenze abgesprochen. Wir haben auch Treffen mit der syrischen Regierung abgehalten, die im vergangenen Oktober von den Russen gesponsert wurden. Aber die Meetings waren nicht produktiv und brachten keine greifbaren Ergebnisse hervor. Die politische Lage ist jetzt in einer Pattsituation. Es gibt keinen Fortschritt in irgendeine politische Richtung hin.
Wie endet dann der Krieg in Syrien?
Wir glauben, dass es lange dauern wird, bis diese Krise gelöst wird. Diese hat sich zu einer regionalen und internationalen Krise zugespitzt, aufgrund der widersprüchlichen Interessen der Regionalmächte. Um die Krise zu lösen, brauchen wir Konsens. Wir sehen keine kurzfristige Lösung. Auch die anderen Konflikte der Welt, wie der Krieg in der Ukraine, wirken sich auf die Syrienkrise aus.
Der Krieg in der Ukraine betrifft Syrien politisch, wirtschaftlich und sogar aus humanitärer Perspektive, weil die verfeindeten Kräfte in der Ukraine irgendwie auch hier in Syrien sind. Dies verkompliziert die Situation weiter und macht es noch schwieriger, die Krise bald zu lösen.
Die internen Probleme der Türkei betreffen auch uns. Die Türkei versucht, ihre interne Krise nach Syrien zu exportieren. Die Türkei behauptet, dass von unserer Region eine Bedrohung ausgeht und dass alle Kurden in Syrien Teil einer terroristischen Organisation sind. Sie benutzen die Arbeiterpartei Kurdistans als Vorwand, um Angriffe auf unsere Region durchzuführen. Das türkische Regime hat Angst, eine Lösung für die „kurdische Frage“ in Syrien zu finden. Sie glauben, dass die Gewährung der legitimen Rechte der Kurden eine Bedrohung für die nationalen Interessen der Türkei darstellt. Aber vielleicht werden die Bedingungen nach der bevorstehenden Wahl in der Türkei besser, und es könnte eine Chance bestehen, auf mehr Dialog und Gemeinsamkeiten hinzuarbeiten.
Wie sehen Sie die Rolle der USA in Syrien?
Die USA spielen eine bedeutende Rolle in Syrien, vor allem durch die Partnerschaft zwischen der US-Armee und den Demokratischen Kräften Syriens gegen den Terrorismus. Durch diese Partnerschaft haben wir gemeinsam große Erfolge erzielt. Die USA spielen eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Region. Die Partnerschaft wurde auf Sicherheit und militärische Zusammenarbeit gegen den Terrorismus beschränkt, aber wir glauben, dass Dies nicht ausreicht. Sie sollte sich auf die politische, wirtschaftliche, humanitäre und sogar justizielle Zusammenarbeit erstrecken. Wir fordern nicht, dass die USA mehr Truppen entsenden, weil es Stützpunkte und Truppen in der ganzen Region gibt. Kommt es zu einer Bedrohung, könnten die US-Truppen sofort eingreifen.
Was wir suchen, ist politische Unterstützung für das Projekt der Autonomen Verwaltung, damit wir politische Stabilität haben können. Wir wollen auch wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung, um die Lebensbedingungen in dieser Region zu verbessern. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um unsere gemeinsame Arbeit bei der Terrorismusbekämpfung fortzusetzen und die dauerhafte Niederlage des ISIS und des Terrorismus im Allgemeinen erreichen zu können.
Die Türkei spielt auch eine destabilisierende Rolle, und wir möchten, dass die USA abschreckend wirken, um die Türkei davon abzuhalten, unsere Region anzugreifen. Wir glauben, dass die USA in dieser Hinsicht eine einflussreiche Rolle spielen und eine noch größere Rolle spielen können.
Die Autonomieverwaltung überwacht die Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer in Nordsyrien festgehalten werden. Was können Sie mir über diese Gefängnisse sagen?
Alle ISIS-Kämpfer, die während der Kämpfe gegen den Islamischen Staat und der jüngsten Operationen festgenommen wurden, befinden sich in diesen Gefängnissen (/s/720481/isisprison-camps-in-syria-are-a-ticking-time-bomb/). Jetzt geht die Gesamtzahl der ISIS-Kämpfer in die Zehntausende, darunter Iraker, Syrer und ausländische Staatsangehörige. Das sind die gefährlichsten Terroristen der Welt. Die Gefängnisse sind nicht sicher. Sie sind provisorische Gefängnisse. Wir glauben, dass wir sicherere Orte haben sollten, um diese gefährlichen Terroristen unterzubringen. Wir müssen die Sicherheitssysteme in den Gefängnissen verbessern, die Haftbedingungen verbessern und uns auch mit der Rechtslage befassen. Dies ist ein gefährliches Problem. ISIS versucht, die Schwäche der Gefängnisse auszunutzen, um ihre Kämpfer zu befreien und eine Armee von Terroristen zu bilden und weltweit Terroranschläge zu verüben.
Sie haben die humanitäre Hilfe erwähnt. Was sind einige der Bedürfnisse der Bevölkerung in Ihrer Region?
Die Region leidet aus vielen verschiedenen Gründen unter einer humanitären Krise. Wir haben Binnenvertriebene aus anderen Teilen Syriens, die in unserer Region Zuflucht gesucht haben. Wir haben Dutzende von Camps. Wir haben auch Hunderttausende Vertriebene aus Efrîn und anderen Regionen, die nach der türkischen Besetzung der Region ihre Heimat verlassen haben. Auch unsere Region leidet unter einem Embargo, weil die Grenzübergänge geschlossen sind. Wir glauben, dass wir einen humanitären Korridor öffnen müssen, um Hilfe durch unsere Region zu bringen. Es sollte auch einen neuen Mechanismus zur Unterstützung der Region geben. Der Einsatz von Nichtregierungsorganisationen und die Bereitstellung von Unterstützung durch diese Organisationen war bisher nicht produktiv und hat den humanitären Bedarf in unserer Region nicht gedeckt.
Die NGOs gehen nicht auf die Prioritäten der Bevölkerung der Region ein. Der Fokus ist auf weniger kritischen Projekten. Und die Autonomieverwaltung hat nicht die Ressourcen, um alle Bedürfnisse der Region zu erfüllen.
Ich weiß, dass über eine mögliche türkische Offensive gegen die Kurden in Nordsyrien gesprochen wurde. Machen Sie sich darüber Sorgen und glauben Sie, dass die USA dies verhindern könnten?
Ein Angriff auf Nordostsyrien stand schon immer auf der Tagesordnung [des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan]. Sie eskalieren bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegen die Kurden. Doch nach dem Erdbeben bewertet die [regierende] Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei in der Türkei die Lage neu. Wir verfolgen Erdogans Schritte aufmerksam. Natürlich kann die US-Regierung jede Aggression in unserer Region verhindern. Auch Russland könnte eine Aggression gegen einige Regionen verhindern. Wir hoffen, dass die USA diese Rolle spielen und versuchen, die Stabilität zu wahren.
Quelle : National Journal