Zwei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben an der syrisch-türkischen Grenze werden immer noch unzählige Leichen aus den Trümmern gezogen. Offizielle Zahlen bestätigen nur für die Türkei mehr als 40.000 Tote. Während die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sich größtenteils auf die Türkei konzentrierte, wurde dabei das Schicksal einer Bevölkerungsgruppe kaum berücksichtigt, nämlich die der syrischen Flüchtlinge.
Dabei ist diese Bevölkerungsgruppe keine kleine Minderheit in der vom Erdbeben erschütterten Region. Laut offiziellen Statistiken der türkischen Behörden lebten nur in den vom Erdbeben am stärksten betroffenen Provinzen Gaziantep, Hatay, Adana, Sanliurfa und Kahramanmaras mehr als 1,5 Millionen registrierte syrische “vorübergehende Schutzbefohlene”. So lautet der offizielle Sprachgebrauch für syrische Flüchtlinge in der Türkei. Auch daher “vorübergehend”, weil die Mehrheit der türkischen Bevölkerung die syrischen Flüchtlinge nicht mehr duldet. So dauerte es nicht lange, bis syrische Flüchtlinge nach dem Erdbeben zu Sündenböcken erklärt wurden. Selbst Politiker beteiligten sich an der Verbreitung von Falschmeldungen, wonach Syrer bei der Erdbebenhilfe bevorzugt behandelt würden oder syrische Banden plündern würden. So gab es in einigen Orten mobilisierte Lynchaktionen, bei der vermeintliche Plünderer unter den Augen der Sicherheitskräfte oder von Sicherheitskräften selbst getötet und geschlagen wurden.
Dass das Erdbeben die syrischen Flüchtlinge genauso hart, wenn nicht sogar härter getroffen hat oder dass syrische Flüchtlinge ihren Nachbarn genauso zur Hilfe eilten, wurde dabei außer Acht gelassen. Vielerorts wurden sie sogar von den ankommenden Hilfsgütern ausgeschlossen, so dass ein Syrer aus Hatay beschämt berichtete, dass er letztendlich Diebstahl begehen musste, da sie keine Hilfe erhalten hätten und er seine Kinder ernähren musste.
Die Leichen von mehr als 1500 syrischen Erdbebenopfern wurden bislang über den Grenzübergang Bab Al-Hawa der syrischen Seite übergeben. Die Dunkelziffer für die syrischen Erdbebenopfer dürfte viel höher sein. Quellen aus dem türkischen Erdbebengebiet berichteten, dass noch mehr Menschen in der Türkei in Massengräbern beigesetzt werden und die tatsächliche Zahl der syrischen Opfer bei mindestens 15.000 liegt. Dabei spielt auch eine Rolle, dass syrische Flüchtlinge oft in großen Gruppen in unsicheren Gebäuden gewohnt haben und dass es auch viele unregistrierte syrische Flüchtlinge gibt, die in den offiziellen Statistiken nicht auftauchen.
Während die türkische und auch die internationale Politik an Konzepten arbeitet, wie sie der betroffenen Bevölkerung helfen können, ist die Zukunft für die syrischen Flüchtlinge weiterhin ungewiss. Eine freiwillige Rückkehr in die kriegsgebeutelte Heimat kommt für die meisten Menschen aus Sicherheitsgründen nicht in Frage. Dennoch bleiben sie auch aktuell und trotz der Erdbebenkatastrophe, Verhandlungsmasse bei den Annäherungsgesprächen zwischen Ankara und Damaskus. Unterdessen steigt in der Türkei der Unmut über die syrischen Flüchtlinge von Tag zu Tag weiter. Daher ist zu befürchten, dass die politischen Machthaber in Ankara den Prozess der Zurückweisung von syrischen Flüchtlingen mit allen Mitteln beschleunigen werden, obwohl die syrischen Flüchtlinge im türkischen Erdbebengebiet nun auch ihre ‘zweite Heimat’ verloren haben.