Wie Kurden und andere Minderheiten bei der Erdbebenhilfe diskriminiert werden

Mittlerweile sind Tage nach dem verheerenden Erdbeben vom 6. Februar in der türkisch-syrischen Grenzregion vergangen. Unter den Trümmern werden hauptsächlich noch Leichen geborgen. Knapp 40.000 Tote hat das Erdbeben bislang auf beiden Seiten der Grenze gefordert und es werden weitere Tausende folgen. Die Konzentration gilt nun der Versorgung der Überlebenden, die zu Millionen obdachlos geworden sind.

Mangelnde staatliche Fürsorge und Rettung?

Immer wieder hörte man Menschen, die über mangelnde staatliche oder behördliche Hilfe klagten. Viele Überlebende berichteten, wie sie in den ersten 48 Stunden noch überall Stimmen unter den Trümmern wahrgenommen hatten, doch diese mit der Zeit immer mehr verstummten. Es gibt unzählige Videos, wie Menschen davon berichten, wie sie selbst mit den knappen Mitteln, die zur Verfügung standen, Menschen lebend oder tot bergen konnten.

Epizentrum Pazarcik: Warum kam kaum Hilfe an?

Einige dieser Videos kommen aus Pazarcik, dem Epizentrum des Erdbebens. Pazarcik hatte bis kurz vor dem Erdbeben knapp 70.000 Einwohner und ist traditionell ein mehrheitlich aus Kurden und Aleviten bestehender Landkreis der Provinz Kahramanmaras. Nach dem Pogrom von Maras 1978, bei dem hunderte hauptsächlich kurdische Aleviten von türkisch-sunnitischen Fundamentalisten ermordet wurden, änderte sich auch in Pazarcik die Demographie allmählich. Dennoch besteht Pazarcik heute noch zu einem bedeutenden Teil aus kurdischen Aleviten, kurdischen Sunniten oder türkischen Aleviten.
Obwohl Pazarcik das Epizentrum des Erdbebens gewesen ist, erreichte die Region nur spärlich Hilfe. Vielmehr kamen Vertreter der Regierungspartei AKP, inklusive des türkischen Staatspräsidenten Erdogan hierher, sprachen vor den Kameras und zogen wieder ab. In der ersten Nacht nach dem Erdbeben kam Muharrem İnce, der ehemalige Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionspartei CHP in die Stadt und wurde selbst vor laufender Kamera Zeuge davon, dass hier kaum staatliche Unterstützung vor Ort war und die Bergungsarbeiten kaum stattfanden. Eine ältere Frau aus der Region, die von den Nachrichtensendern Rudaw und VoA gefilmt wurde, klagte auf kurdisch, dass das alles nur passieren würde, weil sie und Pazarcik kurdisch seien. Sie sagte: “Es gibt weder einen Staat noch ein Team noch irgendwas hier. Wir wurden als Kurden erschaffen, was sollen wir tun? Warum macht ihr diesen Unterschied?”

“Die Region ist sich selbst überlassen”

In den ersten Tagen des Erdbebens halfen sich die Menschen in der Winterkälte zumeist selbst und als einzige offizielle Hilfe war die ebenfalls kurdisch-alevitische Stadt Dersim vor Ort. In den Dörfern von Pazarcik war die Situation schlimmer. Viele Dörfer wurden stark getroffen und hier kam tagelang kaum Hilfe an. Allmählich und auf Druck von Außen schaffte es der türkisch-staatliche Katastrophenschutz AFAD Zelte für Pazarcik und die Dörfer bereitzustellen. Für die Versorgung waren die Menschen wieder hauptsächlich auf freiwillige Helfer und Selbsthilfe angewiesen. Alleine aus Deutschland reisten mehrere Menschen aus dem Gebiet in die Region, um selbst zu helfen und berichteten, dass die Region größtenteils sich selbst überlassen wurde.

Andere Orte, ähnliche Situation

In anderen Gebieten der Südosttürkei mit ähnlicher Demographie war die Situation ähnlich. In Elbistan, einem weiteren Landkreis von Kahramanmaras mit starker kurdisch-alevitischer Bevölkerung, in Dogansehir bei Malatya mit ähnlicher Bevölkerungsstruktur und weiteren Ortschaften war es ähnlich wie in Pazarcik.
In Hatay an der Grenze zu Syrien war die Zerstörung besonders groß und dennoch erreichte die Hilfe diese Region auch viel zu spät und nur zu spärlich. Hatay und das nahezu komplett zerstörte Antakya haben eine bedeutende einheimische arabisch-alevitische Bevölkerung. Ohne die Hilfe, Kampagnen und Rettungsteams der Menschen vor Ort und von außerhalb wäre die Situation hier vermutlich schlimmer.
In Adiyaman, das hauptsächlich von Kurden bewohnt wird und großflächig zerstört wurde, war kaum staatliche Hilfe existent, wie auch von einem Kamerateam des ARD’s festgehalten wurde.

Türkischer Staat lobt eigenes Krisenmanagement und bestraft legitime Kritik

Doch in den größtenteils gleichgeschalteten türkischen Medien war von alldem wenig zu sehen, stattdessen wurde das Krisenmanagement des türkischen Staates mit Präsident Erdogan an der Spitze des Katastrophenschutzes gelobt. Es war bemerkenswert zu sehen, wie die Rettungsteams und die Hilfe vor allem in den Großstädten Kahramanmaras, Gaziantep oder Malatya zu sehen waren, wo die türkische Regierungspartei AKP traditionell ihre Hochburgen hat. Als Stimmen der Kritik immer lauter wurden, stellte sich der türkische Präsident Erdogan am zweiten Tag des Erdbebens mit wutentbranntem Gesicht vor die Kameras und drohte den ‘Provokateuren’, woraufhin es zu Festnahmen von Kritikern kam. Der Zugang zu Twitter, wodurch viele Verschüttete kommunizierten, wurde blockiert. Während die Tragödie in der Türkei noch keinen Tag alt war, bombardierte die türkische Armee Gebiete in Nordsyrien und tötete vor kurzem noch durch einen Drohnenangriff einen Zivilisten in Kobane.

Lynchjustiz gegenüber Syrern und Kurden

In dem ganzen Wirrwarr des Erdbebens vermehrten sich zwischenzeitlich die Meldungen über plündernde Banden in den Erdbebengebieten. Schnell wurden die Schuldigen ausgemacht. In den sozialen Netzwerken, aber auch von Politikern, wurde verbreitet, dass Syrer hauptsächlich für die Plünderungen verantwortlich seien. Schnell wurde aus den Meldungen ernst und es kam zu etlichen Fällen von Lynchjustiz, die von den türkischen Sicherheitskräften geduldet und zum Teil selbst verantwortet wurden. In Adiyaman wurden fünf eingetragene Helfer aus der hauptsächlich von Kurden bewohnten Stadt Diyarbakir von Polizisten als Plünderer mitgenommen, gefoltert und anschließend nackt außerhalb der Stadt ausgesetzt.

Vergessene Opfer des Erdbebens: Syrische Flüchtlinge

Dabei sind syrische Flüchtlinge in der Türkei eine vergessene Opfergruppe des Erdbebens. Die Erdbebenregion in der Türkei beherbergte Hunderttausende syrische Flüchtlinge, vor allem in den Provinzen Hatay, Gaziantep und Kilis. Über das Schicksal der Syrer im Land wurde kaum berichtet. Es ist davon auszugehen, dass sie mindestens genauso schlimm betroffen sind, zumal viele in Armenvierteln mit einfachen Behausungen gelebt haben. Stattdessen wurden über Falschmeldungen wieder mal die Syrer als Schuldige festgemacht und damit die ohnehin schon existente feindliche Stimmung gesteigert. Ein obdachlos gewordener Syrer aus Hatay berichtete vor einer Kamera, dass er sich schäme geklaut zu haben, aber es sein musste, weil sie von der Hilfe ausgelassen worden seien und er eine kleine Kinder zu ernähren habe.

In Syrien herrscht das Chaos

Während trotz aller Probleme und des Fehlens des staatlichen Krisenmanagements in einigen Regionen, die Hilfe in der Türkei auf Umwegen ankommen kann, ist die Situation in Syrien viel drastischer. Tagelang erhielt die vom Erdbeben in Mitleidenschaft gezogene Region Nordwestsyriens keine Hilfe. Entsprechend dramatisch liefen die Rettungsaktionen. In Syrien fehlte es im Gegensatz zur Türkei an allem Möglichen. Geschlossene Grenzen wurden dabei als Hauptgrund aufgeführt, wobei es theoretisch möglich gewesen wäre, die Hilfe auch durch die von der Türkei kontrollierten Grenzen auf beiden Seiten des Landes zu schicken.

Afrin: Systematische Diskriminierung von Kurden

Die Diskriminierung bei der Erdbebenhilfe wird in Nordwestsyrien sehr deutlich. Die Region Afrin wurde vom Erdbeben zusammen mit einigen Ortschaften Idlibs und der Stadt Aleppo am stärksten vom Erdbeben getroffen. In Afrin herrschen seit der türkischen Militäroffensive “Operation Olivenzweig” im Jahr 2018 und der anschließenden Besatzung der Region, syrische Oppositionsgruppen, die unter türkischer Führung in der Syrischen Nationalen Armee (SNA) zusammengeschlossen wurden sowie der syrische Ableger der al-Qaida, die Terrororganisation Hay’at Tahrir ash-Sham (HTS). Afrin ist eine im Ursprung kurdische Region. Nach dem Einmarsch wurden über 300.000 Kurden aus der Region vertrieben, die jetzt zum Großteil in der benachbarten al-Shahba-Region um die Stadt Tall Rifaat leben müssen. In Afrin zogen hingegen die Familien der zumeist arabischen Oppositionsgruppen sowie ortsfremde Araber vor allem aus Idlib ein.

Jindires: Keine Hilfsgüter für Kurden

In Jindires bei Afrin ist die Lage sehr dramatisch. Jindires wurde zum Großteil durch das Erdbeben zerstört oder stark beschädigt. Hier soll es über 700 Tote und 3000 Verletzte geben. Über 500 der Toten sollen die in Jindires übrig gebliebenen Kurden sein. Nun, da die Hilfe allmählich Jindires erreicht, wird die Dimension der Verteilung der Güter ersichtlich. Augenzeugen und andere Quellen aus der Region berichten, wie bewaffnete Oppositionsfraktionen die ankommenden Hilfsgüter beschlagnahmen und unter den eigenen Einheiten und Familien verteilen würden. Ein Araber aus der Region gab vor der Kamera zu, dass die Kurden aus der Region nichts erhalten würden. Mittlerweile ist in Jindires das Chaos ausgebrochen, es gibt Berichte und Videos über Gefechte wegen den Hilfsgütern.

Staatliche Diskriminierung in Aleppo und al-Shahba

An anderer Seite, in den vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten, gibt es ein ähnliches Bild. Obwohl Aleppo vom Erdbeben sehr stark betroffen wurde, blockieren Truppen des syrischen Regimes seit Monaten schon die Viertel al-Sheikh Maqsoud und Al-Ashrafiyya, die hauptsächlich von Kurden bewohnt werden. Ähnlich sieht es in der hauptsächlich von Kurden bewohnten Region al-Shahba aus, die neben einer Blockade durch das syrische Regime auch unter ständigen Angriffen aus der Türkei zu leiden hat.

Sogar Hilfskonvois werden politisiert

Selbst Hilfskonvois aus der selbst notleidenden Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien durften tagelang nicht in die Erdbebengebiete gelangen, weil die politischen Machthaber in Nordwestsyrien die humanitäre Nothilfe sogar politisierten. 80% der Hilfe verlangten Vertreter des syrischen Regimes für sich, damit die Hilfe überhaupt in Aleppo ankommen kann. In den von der Türkei besetzten Gebieten Syriens durften die Hilfskonvois tagelang trotz des Wunsches der lokalen Bevölkerung und einiger Vertreter der sogenannten “Übergangsregierung” nicht in die Erdbebengebiete gelangen.

Humanitäre Hilfe kennt keinen Unterschied

Während die internationale Gemeinschaft Syrien bei der Erdbebenhilfe ausgelassen hatte und UN-Vertreter kürzlich Versäumnisse eingestehen mussten, werden bestimmte Bevölkerungsgruppen in der Türkei und auch in Syrien bei der Erdbebenhilfe diskriminiert. Dabei ist das Leid der Menschen ohne Unterschied der Ethnie oder Religion gleich. Humanitäre Nothilfe darf nicht auf Kosten einer anderen Gruppe geschehen. Bedran Ciya Kurd, Ko-Vorsitzender des Büros für Außenbeziehungen der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, betonte aus diesem Grund, dass mit den Hilfskonvois allen Betroffenen “ohne Diskriminierung” geholfen werden soll. Ob es so sein wird, scheint derzeit fraglich, da sich die Berichte mehren, wonach SNA-Gruppen und regimetreue Gruppen die Hilfen beschlagnahmen und entwenden würden.

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