Internationale humanitäre Hilfe nur für die Türkei – Sind die in Syrien nun wieder ihrem eigenen Schicksal überlassen?
Die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit ist derzeit auf die verheerenden Erdbeben gerichtet, die im Südosten der Türkei und in großen Teilen Nordsyriens zu schweren Verwüstungen und großem Leid geführt haben. Mehr als 23 Millionen Menschen sind laut Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO von dem Erdbeben auf beiden Seiten betroffen. Die Zahl der Todesopfer steigt kontinuierlich. Die letzten offiziellen Angaben aus der Türkei berichteten am Mittwochmorgen von 6957 Toten. Im Bürgerkriegsland Syrien wurden zum selben Zeitpunkt insgesamt mehr als 2500 Tote angegeben. Da Syrien von verschiedenen Kräften kontrolliert wird und unabhängige Überprüfungen kaum möglich sind, sind ganzheitliche Angaben schwierig.
Überall auf der Welt drücken Menschen ihr Beileid aus, wenn sie sehen, wie verzweifelte Zivilisten unter den Trümmern gefangen sind und Tausende von Familien obdachlos sind und den Tod ihrer Angehörigen hautnah miterleben. Hauptsächlich dreht es sich dabei um die Türkei, wo Kameras und Rettungsteams aus aller Welt anwesend sind und am Schicksal teilnehmen. Die Bilder aus Syrien kommen zumeist nur vereinzelt über Handyaufnahmen an die Öffentlichkeit und auch sind keine ausländischen Teams vor Ort. Nur in den Regierungsgebieten sind vereinzelt iranische und russische Hilfe zu sehen,der Rest Nordsyriens ist sich selbst überlassen.
Zwar haben deutsche Politiker auch auf Syrien aufmerksam gemacht und appelliert, auch dort zu helfen, doch bislang hat sich diesbezüglich nichts getan. Außenministerin Annalena Baerbock forderte die Öffnung aller Grenzübergänge zu Syrien, damit dort auch internationale Hilfe ankommen kann, doch diese bleiben bislang weitgehend zu.
Den Angaben des türkischen Vizepräsidenten Fuat Oktays nach sind 16.150 Rettungs- und Suchteams in der Türkei derzeit aktiv und aus dem Ausland kommen immer mehr Teams. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sprach von Rettungskräften aus 36 verschiedenen Ländern, die im Einsatz seien. Außerdem wurde bereits tonnenweise Material in das türkische Erdbebengebiet gebracht, wo viele Menschen in Eiseskälte ausharren mussten.
Währenddessen bewegt sich die syrische Bevölkerung buchstäblich in den Abgrund. Die einzige Hilfe, die sie derzeit haben, ist Selbsthilfe. Dabei könnte die Türkei zumindest für die syrischen Gebiete, die sie besetzt hält oder kontrolliert, Hilfe zukommen lassen. Besonders der Nordwesten Syriens ist vom Erdbeben schwer betroffen. Im ehemals vorwiegend kurdisch besiedelten Afrin, wo die Türkei eine Besatzungsmacht darstellt, soll die Lage besonders dramatisch sein. Auch in Idlib, wo die türkischen Streitkräfte als eine Art Schutzmacht aufgestellt sind, ist die Lage dramatisch. Dennoch lässt die Türkei hier keine Hilfe zukommen, wie der türkische Botschafter in Berlin gegenüber deutschen Sendern indirekt bestätigte. Bezüglich der geschlossenen Grenzübergänge sagte er: “Je nach Sicherheitslage müssen das vor Ort die türkischen Behörden entscheiden.”
Krieg, wirtschaftliche Stagnation, politische Zersplitterung und ausländische Invasionen haben die syrische Zivilbevölkerung in katastrophale Lebensbedingungen gebracht und ihre Not stetig verschärft. Millionen von Menschen waren und sind Folter, Verschwindenlassen und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, insbesondere in den türkisch besetzten Gebieten, die noch immer von oppositionellen Milizen verwaltet werden, die von der Türkei bewaffnet und unterstützt werden.
Der Mangel an grundlegenden Dienstleistungen und logistischen Managements erschwert die Rettungseinsätze zusätzlich zu den fehlenden internationalen Hilfsmaßnahmen, die sich ausschließlich auf die Türkei konzentrieren, was dazu führt, dass viele Syrer die internationale Gemeinschaft und insbesondere die arabischen Staaten auffordern, das Leiden des syrischen Volkes nicht zu vergessen.
Die Vereinten Nationen hingegen kündigten kürzlich die Einstellung der Entsendung von internationaler Hilfe aus der Türkei an, da die “Zufahrtswege des einzig offenen Grenzübergangs zu Syrien beschädigt wurden”. Man würde an neuen Wegen arbeiten. Währenddessen kann jedoch die Türkei ihre militärische Logistik über die syrische Grenze problemlos bewältigen, so dass berechtigte Fragen auftauchen.
Die Syrer werden erneut einem ungewissen Schicksal überlassen. Menschen, die jahrelang Tod, Vertreibung, Folter und das Elend erleiden mussten, stehen erneut vor den Trümmern ihrer Existenz. Die internationale Gemeinschaft, die jahrelang das Leiden in Syrien mit ansah, darf bei dieser humanitären Katastrophe nicht Zuschauer bleiben. Die oft genannte “schwierige Lage aufgrund des Bürgerkriegs” darf daher nicht als Ausrede für unterlassene Hilfeleistungen dienen.