Türkische Opposition legt Wahlprogramm vor: Was passiert mit Nordsyrien und den syrischen Flüchtlingen?
Die aus sechs Parteien bestehende oppositionelle “Allianz der Nation” ( türk. Millet İttifakı) stellte am 30. Januar den gemeinsamen Fahrplan für die kommenden Wahlen in der Türkei vor. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte erst kürzlich per Dekret die für den 18. Juni angesetzten Wahlen vorziehen lassen. Nun sollen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf seinen Wunsch am 14. Mai stattfinden.
Knapp drei Monate vor den Wahlen stellte das größte Oppositionsbündnis der Türkei eine “gemeinsame politische Absichtserklärung” vor, was als das Wahlprogramm des Bündnisses gilt.
Syrien bleibt in der Außenpolitik unerwähnt
Das 240-seitige Wahlprogramm besteht aus 9 Punkten und mehr als 2000 verfassten Zielen, wovon die Ziele für die außenpolitischen Angelegenheiten im letzten Punkt vorgestellt werden und worauf viele außenpolitische Analytiker und Beobachter gespannt gewartet hatten.
Beim ersten Blick fällt auf, dass für Syrien und das teilweise besetzte Nordsyrien keine konkreten Ziele verfasst wurden, während andere Konfliktthemen wie zum Beispiel Armenien-Aserbaidschan oder Griechenland namentlich adressiert wurden. Dabei müsste Syrien auf der außenpolitischen Agenda ganz oben stehen, da die Türkei in Nordsyrien eine Besatzungsmacht darstellt und eine erneute militärische Invasion jederzeit möglich ist, wie aus den Drohungen der aktuellen türkischen Regierung zu entnehmen ist.
“Eine Außenpolitik, die das Völkerrecht und die Souveränität der Nachbarländer achtet”?
Das Oppositionsbündnis verspricht “eine Außenpolitik, die das Völkerrecht achtet sowie universelle Werte vertritt und vor allem die territoriale Integrität und die Souveränität der Nachbarländer achtet”. Weiter heißt es, dass “Praktiken, die innenpolitische und ideologische Absichten haben, in der Außenpolitik keinen Platz mehr haben werden”.
Völkerrechtler und auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags haben wiederholt festgestellt, dass die Besatzung Nordsyriens durch die Türkei illegal ist. In der Praxis müsste die Türkei also wieder aus Nordsyrien abziehen, wenn man dem Wortlaut aus dem Wahlprogramm folgt.
(K)eine Haltung zu Militärinvasionen in Nordsyrien?
Außerdem könnte die Ankündigung, keine außenpolitischen Aktionen für innenpolitische Zwecke zu unternehmen, als Absage an künftige Militärinvasionen interpretiert werden, da dieser Vorwurf in der Vergangenheit oft erhoben wurde. Doch Politiker des Oppositionsbündnisses äußerten sich in der Vergangenheit diesbezüglich immer wieder widersprüchlich. Noch im November des letzten Jahres, als die türkische Armee eine Luftoperation gegen Nord- und Ostsyrien startete, unterstützte Faik Öztrak, Sprecher der CHP, der größten Oppositionspartei und Mitglied des Oppositionsbündnisses, eine mögliche Bodenoffensive in Nordsyrien, während er gleichzeitig auch kritisierte, dass man auf Kosten der dort im Einsatz stehenden türkischen Soldaten Stimmen generieren wolle.
Insofern ist es nicht abzusehen, was die Pläne der türkischen Opposition für Syrien und Nordsyrien sind, wobei sie aber im Wahlprogramm betonen, dass sie “die Beziehungen zu den Nachbarländern verbessern und die Kooperation auf den besten Stand bringen” werden, ohne dabei aber Syrien explizit zu nennen. Doch der CHP-Sprecher Öztrak sagte auch in derselben Rede damals, dass man mit Syrien eine sofortige Normalisierung der Beziehungen anstrebe.
“Wir sorgen in kürzester Zeit für die Rückkehr der syrischen Flüchtlinge”
Erst beim Themenfeld “Migrations- und Asylpolitik” werden die Absichten bezüglich Syrien deutlicher. Als Abschluss des Wahlprogramms nimmt dieser Unterpunkt einen großen Platz ein, wobei syrische Flüchtlinge als einzige Flüchtlingsgruppe namentlich aufgeführt werden. Versprochen wird im Wahlprogramm, dass “man bei der nächsten Gelegenheit für die Rückkehr der unter vorübergehendem Schutz stehenden Syrer sorgen wird”. Es werden eine Reihe von Maßnahmen präsentiert, die die Zahl der Flüchtlinge und ihre Freiheiten innerhalb der Türkei beschränken sollen, so z.B. die eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Rückführungsabkommen und die mögliche Aberkennung der bereits erteilten Aufenthaltsgenehmigungen oder der türkische Pässe.
Enge Zusammenarbeit mit dem Assad-Regime
Angekündigt wird auch, dass man “für die Rückführung der syrischen Flüchtlinge eng mit der syrischen Führung zusammenarbeiten” werde, was erklärt, warum das Oppositionsbündnis eine rasche Normalisierung mit dem Assad-Regime anstrebt.
Für einen “dauerhaften Frieden” will man im Falle einer Machtübernahme auch mit allen Gruppen in Syrien reden und mit der Regierung in Damaskus einen intensiven Dialog starten. Ausgeschlossen davon sind, wie es im Wahlprogramm heißt, “terroristische Gruppen”, womit ein Dialog mit der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ausgeschlossen wird, da das Oppositionsbündnis wie die türkische Regierung auch die Region nicht anerkennt und ihre Bekämpfung unter dem Aspekt des ‘Terrorismus’ als gerechtfertigt ansieht.
Fragliche Unterstützung einer ganzheitlichen syrischen Lösung
Das Oppositionsbündnis verspricht “für den dauerhaften Frieden in Syrien sowie die territoriale Integrität Syriens und für die Rückkehr der Flüchtlinge die UN-Resolution Nr. 2254 bezüglich einer Lösung des Konflikts zu unterstützen”. Ob es so sein wird, bleibt fraglich, da die Bereitschaft zur Unterstützung der UN-Resolution im Wesentlichen von der Frage der Miteinbeziehung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien abhängig sein wird. Die jetzige Staatsführung in der Türkei weigert jegliche Verhandlungen oder Miteinbeziehung der Region in die Friedensgespräche, obwohl zuletzt Mazloum Abdi, Generalkommandeur der Regionalkräfte der SDF, Friedensabsichten und die Bereitschaft zu Verhandlungen signalisierte.
Ähnliche außen- und migrationspolitische Ansichten
Im Bereich der Außen- und Migrationspolitik scheinen die Meinungen und Ziele der aktuellen Regierung und des Oppositionsbündnisses nicht weit voneinander entfernt zu sein. Die AKP-Regierung startete zuletzt den Versuch einer Normalisierung der Beziehungen zum Assad-Regime, wonach das Oppositionsbündnis strebt. Die türkische Regierung hatte sich jahrelang als Erzfeind stilisiert und unterstützt immer noch syrische Oppositionsgruppen. Politische Beobachter sahen darin ein wahltaktisches Manöver. Syrische Flüchtlinge sind ein wesentlicher Bestandteil der türkischen Wahlen geworden. Die öffentliche Stimmungslage in dem wirtschaftlich geplagten Land gegenüber syrischen Flüchtlingen ist am Tiefpunkt, auch unter den Wählern der aktuellen Regierungspartei. So wurden die Annäherungsversuche an das syrische Regime auch mit dem Versuch, die syrischen Flüchtlinge zurückführen zu können, begründet.
Was passiert mit den syrischen Flüchtlingen?
In der Türkei leben weiterhin über drei Millionen registrierte syrische Flüchtlinge. Nach Angaben des türkischen Innenministeriums wurden bereits über 500.000 syrische Flüchtlinge ‘freiwillig’ zurückgeführt. Diese wurden zumeist in die Besatzungszonen der Türkei gebracht, wo die meisten dieser Flüchtlinge nicht stammten. Viele Flüchtlinge berichten von Willkür und Drohungen, womit die Rede von ‘freiwilliger Rückkehr’ zu hinterfragen ist. Das Schicksal der syrischen Flüchtlinge in der Türkei ist ungewiss. Sowohl das Oppositionsbündnis, als auch die AKP-Regierung arbeiten an Möglichkeiten, sie wieder zurückführen zu können. Die syrischen Flüchtlinge sind angesichts der Wahlen mit einer unsicheren Zukunft konfrontiert.
Aufrechterhaltung des Status-Quo?
Das Wahlprogramm des Oppositionsbündnisses erweckt den Anschein, dass man für die Rückführung der syrischen Flüchtlinge gewillt ist, mit dem Assad-Regime die Beziehungen zu normalisieren, aber auch gleichzeitig bereit ist, weiterhin an der Okkupationspraxis in Nordsyrien festzuhalten. Das Fehlen von konkreten Aussagen bezüglich der besetzten Gebiete oder zu möglichen Militäreinsätzen führt zu dieser Annahme. Schließlich wurden im Wahlprogramm “die nationalen Interessen und die nationale Sicherheit” als oberste Ziele definiert. Ganz im Sinne der Rechtfertigungen und des Wortlauts der türkischen Regierung für ihre Besatzung in Nordsyrien.