Die Blicke vieler syrischer Flüchtlinge in der Türkei sind auf den 18. Juni gerichtet. An diesem Tag wird in der Türkei ein neues Parlament sowie der Präsident gewählt und die syrischen Flüchtlinge im Land sind längst schon ein wesentlicher Teil der Wahlpropaganda der jeweiligen Parteien geworden.
Das Thema “Flüchtlinge” hat jedoch mit dem kürzlich durch Moskau angestoßenen Annäherungsprozess zwischen der Türkei und Syrien an neuer Brisanz gewonnen. Die Diskussionen werden inzwischen auch von der Frage dominiert, inwieweit ein solcher Prozess auch die syrischen Flüchtlinge im eigenen Land involviert.
Der Zeitpunkt der Annäherungsgespräche könnte für Erdogan nicht viel besser sein. Die Türkei, die sich ehemals als schärfster Gegner der Assad-Regierung präsentierte und diesbezüglich auch Gegner des syrischen Regimes militärisch und finanziell unterstützte, ist plötzlich wieder bereit, mit Syrien zu verhandeln und Gespräche zu führen.
Die syrischen Flüchtlinge im eigenen Land sind einer der Hauptgründe für diesen Schritt. Mittlerweile ist das Thema in der türkischen Öffentlichkeit so dominant geworden, dass auch die regierende AKP-Partei von Erdogan seit längerem von der offenen Willkommenspolitik für syrische Flüchtlinge Abstand genommen hat und stattdessen nach Wegen sucht um die Flüchtlinge aus dem Land zu bekommen.
Im Mai 2022 kündigte Erdogan öffentlich an, dass seit 2016 angeblich über 500.000 syrische Flüchtlinge in die von der Türkei eingerichteten sogenannten „Sicherheitszonen“ in Nordsyrien zurückgekehrt seien und fügte hinzu, dass derzeit neue Wohnbauprojekte geplant seien, um die sichere „freiwillige“ Rückkehr einer weiteren Million Flüchtlinge zu gewährleisten.
Dabei betreibt die Türkei eine bewusste Politik der ethnischen Verschiebung oder den Worten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages nach, eine ‘ethnische Flurbereinigung’. Die sogenannten “Sicherheitszonen”, die in Wahrheit türkische Besatzungszonen in Nordsyrien darstellen und von Ankara unterstützten und bewaffneten syrischen Oppositionsgruppen verwaltet werden, haben ursprünglich größtenteils eine mehrheitlich kurdische Bevölkerung. Während diese vertrieben wurden und werden, werden oft arabische Flüchtlinge, die nicht aus diesen Gebieten stammen, angesiedelt, um eine dauerhafte demografische Änderung herbeizuführen. Besonders im besetzten Afrin in Nordsyrien ist diese Praxis sichtbar und durch zahlreiche Projekte nachweisbar.
In der Türkei sind aktuell rund 3,5 Millionen Syrer offiziell registriert, mit dem Status „vorübergehender Schutz“, wobei türkische Oppositionsparteien die Gesamtflüchtlingszahl höher schätzen als in der aktuellen Statistik angegeben. Auch in der türkischen Bevölkerung und unter der Anhängerschaft der AKP-Regierung ist die Skepsis vor diesen zu niedrig empfundenen Zahlen groß.
Die Flüchtlingsfrage hat sich zu einem Schlüsselthema entwickelt, da im Juni 2023 Parlamentswahlen anstehen und Erdogan und seine Regierung um die Wiederwahl bangen müssen, wie verschiedene Umfragen zeigen. Das Land leidet derzeit enorm unter einer Wirtschaftskrise, die von Rekordinflation und ständig weiter fallender Währung gekennzeichnet ist. Die syrischen Flüchtlinge, die mittlerweile zum Großteil in den türkischen Städten leben und sich ein neues Leben aufgebaut haben, sind dabei ein geeigneter Sündenbock.
Die derzeitige Entwicklung hat eindeutig die fremdenfeindlichen und anti-syrischen Ressentiments im Land vertieft. Laut einer Umfrage, die auf ‘Al-Monitor’ präsentiert wird, soll mittlerweile 60% der türkischen Bevölkerung für Gespräche zwischen dem türkischen Präsidenten Erdogan und dem syrischen Präsidenten Assad sein, wobei unter den Wählern der AKP 63% und ihrem rechtsextremen Koalitionspartner MHP sogar 77% dafür waren. Noch mehr Menschen sind laut der Umfrage für eine sofortige Abschiebung von syrischen Flüchtlingen.
Dabei wollten einer Untersuchung des türkischen Politikwissenschaftlers Prof Dr Murat Erdogan nach die meisten Flüchtlinge schon vor den Annäherungsgesprächen nicht mehr zurück nach Syrien. Nun dürfte die Bereitschaft weiter gesunken sein, da nicht wenige bei einer Rückkehr mit Verfolgungen zu rechnen hätten.
Die Zukunft für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei ist ungewiss. Sie sind der Spielball der Wahlvorbereitungen in der Türkei geworden. Nun sind sie auch zur Verhandlungsmasse beim Annäherungsprozess geworden. Doch es ist auch ungewiss, ob eine vollständige Normalisierung zwischen Syrien und der Türkei in naher Zukunft erreicht werden kann und welche Folgen dies für die syrischen Flüchtlinge hat, die sich gegenwärtig in der Türkei aufhalten und eine Zwangsrepatriierung befürchten müssen. Der syrische Machthaber Bashar al-Assad ließ zuletzt erkennen, dass unter den jetzigen Bedingungen und der Türkei als Besatzungsmacht eine Annäherung nicht möglich sei, während die Türkei daraufhin erneut mit einer Bodeninvasion in Nordsyrien drohte.