Wie Afrin im Nordwesten Syriens zum neuen Hotspot vom Islamismus und kriminellen Machenschaften wurde

Kürzlich wurde bekannt, dass die im syrischen Bürgerkrieg aktive Organisation Hayat Tahrir ash-Sham (HTS) weite Teile des Bezirks Afrin im Nordwesten Syriens erobern konnte. Die Hayat Tahrir ash-Sham ist eine der größten und zugleich brutalsten oppositionellen Fraktionen in dem seit 2011 andauernden Bürgerkrieg. Sie gilt als Nachfolger der al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger der al-Qaida und wird international mehrheitlich als Terrororganisation aufgelistet. In den Reihen der djihadisitischen Organisation kämpfen tausende Ausländer, darunter auch hunderte bis tausende Kämpfer aus Europa. Nach der Übernahme von weiten Teilen des Gouvernements Idlib im Jahre 2017, wurde die HTS zur bestimmenden Kraft in dieser Region.

Idlib: Einigung zwischen Putin und Erdogan


Mitte September 2018 einigten sich der russische Präsident Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf eine entmilitarisierte Zone von ca. 15 km rund um Idlib. Bereits 2017 wurde im Zuge der sogenannten ‘Astana-Gespräche’ zwischen Russland, dem Iran und der Türkei die Vereinbarung getroffen, in Idlib eine Deeskalationszone zu schaffen. Die Bedingung dafür war, dass die Türkei die HTS aus Idlib vertreibt. Als die türkische Armee daraufhin im Oktober 2017 in Idlib einmarschierte und rund um die Region mehrere sogenannte ‘Beobachtungsposten’ errichtete, die de facto Militärstützpunkte der türkischen Armee darstellen, wurde sie stattdessen von der HTS durch Idlib eskortiert.

Die Türkei hält Vereinbarung über die HTS nicht ein

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte nach der Einigung mit Russland im September 2018, wonach Russland erneut die Bedingung stellte, dass die HTS aus Idlib vertrieben werden müsste: “Die Region wird von Radikalen gesäubert. Das Volk und die gemäßigte Opposition bleiben, wo sie sind.” Geblieben sind aber trotz Fraktionskämpfen untereinander vor allem die HTS, die sogar seitdem ihr Einflussgebiet über Idlib hinaus vergrößert haben. Es gab seitdem keine nennenswerten Auseinandersetzungen zwischen der türkischen Armee und der HTS. Dabei gehört die Türkei auch zu den Ländern, die die HTS als Terrororganisation aufgelistet haben.

Afrin im Kreuzfeuer der SNA, der türkischen Armee und der HTS

In den letzten Wochen und Monaten expandierte die HTS Richtung Norden und setzte sich in Teilen von Afrin fest, das seit der sogenannten Militäroffensive ‘Operation Olivenzweig’ Anfang 2018 unter türkischer Besatzung steht. Aus  dem mehrheitlich von Kurden bewohnten Afrin wurden seitdem mehr als 300.000 Menschen vertrieben. Die Region wurde unter mehreren an der Militäroffensive beteiligten syrisch-oppositionellen Fraktionen aufgeteilt. Diese Organisationen werden alle von der Türkei unterstützt, sowohl militärisch als auch finanziell, und wurden unter türkischer Führung in der Syrischen Nationalen Armee (SNA) zusammengeführt.

Der Frieden unter den Gruppen gewährte nicht lange. Die verschiedenen Gruppierungen bekämpfen sich seitdem in wechselnder Konstellation. Dabei sind ideologische Meinungsverschiedenheiten nicht der hauptsächliche Grund für die Auseinandersetzungen untereinander, sondern wirtschaftliche und machtpolitische Interessen. Afrin erlebt einen beispiellosen Landraub der einheimischen Bevölkerung. Die fruchtbare Region um Afrin beherbergt Millionen von Olivenbäumen, über deren wirtschaftliche Nutzung sich die verschiedenen Fraktionen genauso streiten, wie über die Möglichkeiten, die ihnen durch illegalen Siedlungsbau entstehen. Das Geschäft mit den zum Teil hunderte von Jahren alten Olivenbäumen ist so lukrativ geworden, dass ganze Flächen auf den Satellitenbildern mittlerweile kahl erscheinen. Darüber hinaus werden regionale Produkte wie Oliven und Olivenöl über falsches Labeling in der Türkei bis auf den europäischen Markt gebracht. Über den Raub der Olivenbäume berichteten wir an anderer Stelle ebenso wie über den illegalen Siedlungsbau in Afrin, das unter türkischer Aufsicht stattfindet.

Profitieren durch die ‘ethnische Flurbereinigung’ der Türkei

Die Türkei verübt in Afrin als Besatzungsmacht Kriegsverbrechen, indem sie die mehrheitlich kurdische einheimische Bevölkerung zur Flucht zwingt und diese durch die Ansiedlung von anderen, zumeist nicht kurdischen Flüchtlingen und Kämpfern ersetzt. Durch diese, den Worten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags nach, ‘ethnische Flurbereinigung’ wollen auch die verschiedenen Gruppen profitieren. Kürzlich deckte die syrische Organisation “Syrians for truth and justice” (STJ) ein illegales Siedlungsprojekt im Distrikt Jindires bei Afrin auf, wo die oppositionelle Miliz ‘Samarkand-Brigade’ unter der Aufsicht der Türkei und in Kooperation mit internationalen als humanitär ausgegeben Organisationen bei der Wohnungsvergabe begünstigt wurde und im Gegenzug für die ‘Sicherheit’ in der Siedlung sorgen soll. Außerdem wurden dabei hauptsächlich ortsfremde Menschen, in diesem Fall aus der Region Idlib, angesiedelt. Bislang wurden mehrere solcher Siedlungen in Afrin bekannt, die allesamt ähnliche Strukturen haben.

Von Extremisten gesponsorte Siedlungen: Afrin wird zum islamistischen Hotspot

Zusätzlich zu den erwähnten Siedlungen forciert die Türkei in Afrin auch die Ansiedlung von Palästinensern. Laut dem Sprecher der Menschenrechtsorganisation von Afrin, Ibrahim Sheikho, leben nur in Afrin bereits mindestens 500 palästinensische Familien. Die meisten von Ihnen leben in Siedlungen, die von palästinensischen Organisationen in Afrin gegründet worden sind. Die Nähe von palästinensischen Vereinen wie der ‘Khair Ummah’ oder ‘Wafaa al-Muhsinin’, die am Bau von 18 Wohnsiedlungen beteiligt waren, zur extremistischen Muslimbruderschaft ist unbestreitbar. Ähnlich verhält es sich auch mit der Siedlung in Jindires. Hinter den meisten Siedlungen stehen angebliche humanitäre Organisationen wie zum Beispiel die ‘Al-Rahma-Stiftung’, die meist den Ursprung in den Golfstaaten oder der Türkei  haben und eher islamistisch ausgeprägt sind. Diese haben auch zumeist die Macht darüber zu entscheiden, wer angesiedelt werden soll. So werden in Afrin vor allem die Familien der verschiedenen Fraktionskämpfer, die zumeist einen islamistischen Hintergrund haben oder Familien, die den Vorstellungen der Siedlungsverantwortlichen entsprechen, angesiedelt. Abgesegnet werden diese Prozesse vom türkischen Gouvernement von Hatay, das die de facto Hoheit über Afrin ausübt. Die Vertriebenen dürfen meistens nicht mehr zurück in ihre Heimat und müssen stattdessen in Flüchtlingslagern oder bei Verwandten unterkommen. So ist in Afrin bereits seit der Ankunft der oft extremistischen Fraktionen der Syrischen Nationalen Armee ein Islamisierungsprozess in Gang, der durch die aggressive Siedlungspolitik der Türkei in Kooperation mit islamistischen Organisationen und Geldgebern weiter intensiviert wurde.

HTS verbündet sich in Afrin mit Teilen der SNA

Die Situation in Afrin hat sich nun mit der Ankunft der HTS weiter verschlechtert. Diese Gruppierung ist extremistischer als die bereits vor Ort anwesenden anderen Gruppen. Dennoch ist es für einige der dieser Gruppen, die Teil der SNA sind und von der Türkei unterstützt werden, kein Problem, sich mit der HTS zu verbünden und gemeinsam gegen andere Gruppen aus der SNA zu kämpfen. Zu diesen gehören die sogenannte ‘Hamza-Brigade’, über die wir auch kürzlich mehrfach berichteten, sowie die ‘Suleiman-Shah-Brigade’. Die Hamza-Brigade ist in allen Besatzungszonen der Türkei aktiv. Vor einigen Wochen endeten Kämpfe unter Einheiten der Hamza-Brigade in Afrin tödlich. Der Streitpunkt waren wie so oft die Olivenbäume. Kürzlich wurde in einer anderen Besatzungszone bei al-Bab die Existenz eines Foltergefängnisses der Organisation bekannt, in dem auch viele

Geflüchtete aus Afrin unter brutalen Umständen zum Tode kamen. Außerdem waren Kämpfer der Organisation nachweislich in Libyen und in Aserbaidschan als Söldner im Einsatz.

Türkei stellt sich nicht gegen die HTS und gestattet Kriegsverbrechen

Die Geschehnisse in Afrin zeigen, dass die dort aktiven verschiedenen Fraktionen unter der SNA keinesfalls eine Einheit bilden, sondern alle ihren eigenen Interessen nachgehen, solange dies von der Besatzungsmacht Türkei gestattet wird. Für die Türkei erfüllen diese Organisationen einen nützlichen Job. Sie vertreiben und terrorisieren die verbliebene einheimische Bevölkerung. Gleichzeitig helfen sie der Türkei und ihren Partnern bei der Ansiedlung von neuen Flüchtlingen, auch aus der Türkei. Außerdem dienen sie als Vorkämpfer bei den Invasionen der Türkei in Nordsyrien, die hauptsächlich gegen die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien gerichtet ist oder sie dienen als Söldner in Kriegen wie in Libyen oder in Armenien, an denen die Türkei direkt oder indirekt mitbeteiligt ist. Im Gegenzug dürfen sie die Verwaltung in den türkischen Besatzungszonen ausüben und ihren Machenschaften hinterhergehen. Es ist bezeichnend, dass die Türkei auch in Afrin, wo sie direkte Besatzungsmacht ist, sich nicht gegen die erfolgreichen Vorstöße der HTS stellt, bei denen der Terrororganisation auch noch von den Fraktionen geholfen wird, die die Türkei direkt unterstützt.

Vertrieben und erneut vor Vertreibung: Die drohende Gefahr für Tal Rifaat

In der östlich von Afrin liegenden Exklave Tal Rifaat, das von der Allianz der Syrischen Demokratischen Kräften gehalten wird und administratorisch zur Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien gehört, leben zehntausende der Vertriebenen aus Afrin, die auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten. Stattdessen wächst hier die Zahl derer, die den kriminellen Machenschaften und den Repressionen der türkischen Armee, der SNA-Fraktionen und der HTS entfliehen. Der türkische Präsident Erdogan gab Tal Rifaat als nächstes Ziel aus und es konnte jederzeit zu einer neuen Invasion kommen. Für die vertriebenen Menschen aus Afrin heißt das, dass sie erneut fliehen müssten. Die Folgen der türkischen Invasionen in Nordsyrien werden in Afrin mehr als deutlich. Tal Rifaat und anderen Teilen Nordsyriens droht dasselbe Schicksal. Afrin wird mit dem Einzug der HTS endgültig zu einem neuen Hotspot des Islamismus und die Region zerfällt stetig weiter ins Chaos. Das humanitäre Völkerrecht wird in Afrin mit Füßen getreten. Die internationale Gemeinschaft muss auch in dieser Region der Erde intervenieren, damit sie nicht mit der  nächsten humanitären Katastrophe konfrontiert sind.

 

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