Warum greift die türkische Regierung immer wieder die Region um Nord- und Ostsyrien an?

 

Ein aktuell wichtiges Thema, dass die Politik im Nahen Osten und die fragile Sicherheitssituation in Nord- und Ostsyrien bestimmt, ist die ständige Drohung der Türkei eine neue militärische Offensive in der Region zu starten.Die türkische Armee hält bereits große Teile Nordsyriens besetzt, wie zum Beispiel Afrin seit 2018 und Gire Spi/Tal Abyad seit 2019. Die von ihr unterstützen und bewaffneten oppositionellen Gruppierungen kontrollieren weite Teile dieser Gebiete und sind in schwerste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung involviert.

Im Zuge der letzten türkischen Ankündigung eine sogenannte “Sicherheitszone” zu etablieren, die laut der türkischen Regierung vor allem Manbidsch und Tal Rifaat betreffen soll, entstand eine Debatte über die politischen Motive der türkischen Entscheidung, eine Invasion in Nordsyrien zu starten.

Die Türkei rechtfertigt ihre ständigen Drohnenangriffe und großflächigen Bombardements auf die Region damit, dass ihre nationalen Sicherheitsinteressen und ihre Grenzen gefährdet seien. Diesbezüglich sagte der türkische Präsident Erdogan schon 2017 zum 79. Todestag vom türkischen Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk: “Der wichtigste Grund für unsere Sicherheitsprobleme an den südlichen Grenzen unseres Landes, ist, dass Zugeständnisse bezüglich der Misak-ı Milli gemacht worden sind.” Die sogenannte “Misak-ı Milli” bezeichnet den Nationalpakt der türkischen Unabhängigkeitsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, bei dem die zukünftigen Grenzen der zu errichtenden türkischen Republik festgelegt wurden. Dazu gehörten im Süden der komplette Norden Syriens sowie auch der Nordirak. Nach dem türkischen Unabhängigkeitskrieg und dem Vertrag von Lausanne jedoch, wurden diese Grenzen revidiert und die Grenzen der heutigen Türkei festgelegt. Die “Misak-ı Milli” ist zum wichtigen Eckpfeiler der türkischen Außenpolitik geworden. Bei derselben Rede sagte Erdogan auch, dass man erneut die “Misak-ı Milli” verteidigen müsse. Er fügte hinzu: “Hätte man die Zugeständnisse nicht gemacht, so guckt, wo wir jetzt sind. Erinnert euch, versteht das. Diejenigen, die uns gestern noch hinter das Misak-ı Milli geworfen haben, arbeiten nun daran, auch Lausanne nichtig zu machen und uns zu Sevres bringen. Aber sie sehen eines nicht, nämlich, dass die Türkei von heute nicht die Türkei von gestern ist!”

Erdogan gab damit öffentlich die Marschroute für Syrien vor. Die Türkei unter Erdogan möchte zu den Grenzen von “Misak-ı Milli” zurück und bringt das auch öffentlich zum Ausdruck. Insofern wirkt es nicht verwunderlich, dass die Türkei, ungeachtet der Völkerrechtswidrigkeit, bereits weite Teile Nordsyriens unter ihre Kontrolle gebracht hat und öffentlich damit droht, den ganzen Norden Syriens unter ihre Kontrolle bringen zu wollen. In diesem Kontext kann auch der aktuelle Konflikt mit Griechenland bewertet werden, denn die griechischen Inseln und Gewässer, zu deren Entmilitarisierung die Türkei aufgerufen hatte, liegen auch innerhalb dieser ursprünglich verfassten Grenzen.

Die Türkei betrachtet auch eine Selbstverwaltung an ihrer Grenze, an der Kurden mitbeteiligt sind, als Bedrohung. Am deutlichsten wird dies im Unterschied zur türkischen Bekämpfung von der Terrororganisation IS und der Selbstverwaltung an ihrer Grenze. Als der IS fast zwei Jahre lang an großen Teilen der türkischen Grenze eine Terrorherrschaft aufgebaut hatte, wurde das türkische Militär kaum aktiv. Erst nachdem Kämpfer aus der Selbstverwaltung mit Hilfe der Internationalen Koalition gegen den IS, die Kontrolle über die Grenzen zu übernehmen begann, wurde der türkische Staat aktiv. Nicht nur vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, sondern auch vom US-Koordinator für den Nahen Osten Brett McGurk wird diese Einschätzung geteilt. Eine erstarkte Selbstverwaltung an ihrer Südgrenze könnte dem türkischen Vernehmen nach auch die Autonomiebestrebungen im Südosten der Türkei stärken. Zu den politischen Interessen der Türkei gehört somit auch, dass mit den Militäroffensiven und der Besatzung in Nordsyrien Autonomiebestrebungen im In- sowie im Ausland unterbunden werden sollen, auch wenn von diesen für die Türkei keine konkrete Gefahr besteht, wie völkerrechtliche Beurteilungen festgestellt hatten.
Die wiederholten türkischen Drohungen, eine neue Militäroffensive zu starten, könnten auch innenpolitische Absichten haben. In der Türkei wächst die Fremdenfeindlichkeit, insbesondere gegen Syrer, und die Wirtschaft verschlechtert sich rapide. Die Inflation ist mittlerweile auf einem Rekordniveau, was zur rasanten Verarmung der Bevölkerung führt.

Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien haben viele geflüchtete Syrer in der Türkei Zuflucht und ihr neues Zuhause gefunden. In der türkischen Bevölkerung gibt es immense Vorbehalte gegen diese Menschen, denen die schlechte Wirtschaftslage, hohe Arbeitslosigkeit und steigende Kriminalität zur Last gelegt wird. Der türkische Präsident Erdogan rückte daraufhin von der alten Aussage, Syrer nicht zurückzuschicken, zurück und kündigte stattdessen an, Syrer in die zu errichtenden oder errichteten sogenannten “Sicherheitszonen” zurückzuführen. Diese jedoch stammen oft nicht aus diesen Regionen und wollen nicht in diese Regionen angesiedelt werden. Laut einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung, betreibt die Türkei in den besetzten Gebieten eine “ethnische Flurbereinigung”, zu deren Opfern hauptsächlich Kurden zählen. Diese werden aus ihrer angestammten Heimat vertrieben und durch syrische Flüchtlinge ersetzt. Das Ziel dahinter ist, dass die Türkei eine dauerhafte demografische Veränderung in der Region durchführen will, damit es keine zusammenhängenden kurdischen Siedlungsgebiete beiderseits der Grenzen gibt. Damit möchte die türkische Regierung einerseits ihre eigene Kontrolle über die Region stärken und anderseits die vorhin erwähnten Autonomiebestrebungen unterbinden.

Ein anderer Grund für die geplante militärische Offensive ist die strategische und geographische Wichtigkeit von Manbidsch, welches ein Handelszentrum bildet und nah am Highway M4 liegt, durch die alle wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb Syriens koordiniert werden. Die Türkei würde damit eine wichtige Verkehrsader in Syrien kontrollieren. Mit Manbidsch und Tall Rifaat würde die Türkei auch die Kontrolle über ganz Nordsyrien westlich des Euphrats erlangen und damit auch nur noch einen Katzensprung entfernt sein von der wichtigen Großstadt Aleppo, was auch innerhalb der “Misak-ı Milli”-Grenzen liegt. In Tall Rifaat und Manbidsch leben viele Vertriebene der türkischen Militäroffensiven, die auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten. Mit einer weiteren Offensive auf diese Städte müssten diese Menschen erneut fliehen und eine Rückkehr in ihre angestammte Heimat wäre damit in weite Ferne gerückt. Das liegt aber im türkischen Interesse, da diese Menschen für die Pläne der dauerhaften demografischen Veränderung der Region eine Gefahr stellen. Auch aus diesen Gründen, finanziert und deckt die Türkei die in schlimmste Verbrechen verwickelten bewaffneten oppositionellen Milizen in Nordsyrien, um mit ihrer Hilfe die Kontrolle über weite Teile Nordsyriens zu erlangen.
Eine weitere drohende türkische Invasion würde schlimme Auswirkungen auf die gesamte Region und die unter dem Dauerbeschuss und fragiler Existenzsituation leidenden Zivilbevölkerung haben und das Ausmaß der Kriegsfolgen weiter verschlimmern.

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