Die europäische Sicherheitspolitik wurde in den letzten Monaten, im Zuge des Russland-Ukraine-Krieges, vom Beitrittsgesuch von Schweden und Finnland in die NATO dominiert. Während alle Mitgliedsstaaten der NATO eine Aufnahme unterstützten, blockierte die Türkei öffentlich den Beitrittsgesuch. Den NATO-Regularien zufolge müssen alle Mitglieder der Aufnahme neuer Staaten zustimmen. So stellte die Türkei eine Reihe von Forderungen, um ihre Zustimmung zu erzwingen, was primär damit verbunden war, dass Finnland und Schweden die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES), die teilweise von der Türkei unter Besatzung steht, politisch unterstützte.
Konkret forderte der türkische Präsident Erdogan, dass beide Länder ihre Waffensanktionen gegenüber der Türkei aufheben, die als Folge des türkischen Einmarsches in Nordsyrien 2018 und 2019 auferlegt wurden. Außerdem forderte er ein Ende der Unterstützung der AANES, zu der Finnland und Schweden quasi-diplomatische Beziehungen pflegen. Zudem stellte die Türkei eine Liste von Personen zusammen, die sie von Schweden ausgeliefert haben wollte. In dieser Liste befanden sich neben einem bereits verstorbenen politischen Aktivisten auch die kurdischstämmige schwedische Abgeordnete Amineh Kakabaveh, die bei der schwedischen Regierungsbildung als unabhängige Parlamentarierin das Zünglein an der Waage war.
Am 27. Mai sagte der türkische Außenminister Cavusoglu bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Rumänien und Polen: „Der Grund, warum wir gegen einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden sind, ist ihre Unterstützung für Terrororganisationen“. Ein Blick auf die Liste der geforderten Personen der Türkei reicht allerdings aus, dass dies für die Türkei nur als Vorwand dient, um alle Kritiker und Gegner der türkischen Regierung stumm zu stellen. Noch einige Tage vor den Äußerungen Cavusoglus kündigte Erdogan eine erneute Invasion in Nordsyrien an. Seit dieser Ankündigung intensivieren sich die Angriffe auf Nord- und Ostsyrien, während gleichzeitig die türkische Armee und von der Türkei bewaffnete islamistische Milizen sich für einen Frontalkrieg vorbereiten. Noch am Tag der Unterzeichnung der von der Türkei geforderten schriftlichen Vereinbarung zwischen der Türkei, Schweden und Finnland beim NATO-Gipfel in Madrid starben zwei Kinder bei Artillerieeinschlägen aus Gebieten, die die Türkei bereits besetzt hat und als sogenannte “Sicherheitszonen” deklariert hat. Für die Türkei ist eine ausgeweitete, von Kurden dominierte, Autonomie an ihrer Grenze unvorstellbar. Genauso wie im Inland, bekämpft die Türkei auch im Ausland jegliche Bemühungen von kurdischer Selbstverwaltung. Im benachbarten kurdischen Nordirak hingegen pflegt die Türkei seit Jahren schon gute Beziehungen zur dort seit der Autonomiewerdung regierenden PDK der Barzanis, die seit mehr als 30 Jahren dort herrschen und mit der Türkei verbündet sind. Die Türkei hat im Nordirak mehrere militärische Stationen errichtet und durch wirtschaftliche Verflechtungen die Autonomieregierung Kurdistans an sich gebunden.
Die AANES entstand im Folge des syrischen Bürgerkriegs durch einen Zusammenschluss von verschiedenen Bevölkerungsgruppen Nordsyriens und konsolidierte sich allmählich nach der Zerschlagung der Terrororganisation IS durch die SDF, die als die Streitkräfte der Region gelten und von der Internationalen Koalition gegen den IS unterstützt werden. Die AANES versteht sich als basisdemokratische Alternative im syrischen Bürgerkrieg. Während die SDF im Kampf gegen den IS breite internationale militärische Unterstützung bekam und auch die diplomatischen Beziehungen zur Region weiter anwuchsen, stellte sich die Türkei gegen diese Entwicklungen. Der IS, der mehr als 2 Jahre an der türkischen Grenze in Teilen von Nordsyrien herrschte, wurde von der Türkei nicht als Bedrohung angesehen und es wurden kaum militärische Aktionen unternommen. Wie der US-Sonderbeauftragte für Nordafrika und dem Nahen Osten Brett McGurk feststellte, passierten stattdessen über 40.000 Kämpfer aus 110 Ländern die türkische Grenze, um sich dem IS anzuschließen. Erst als der IS besiegt wurde und ein kurdisch dominierter Zusammenschluss an den Grenzen herrschte, wurde die Türkei aktiv und startete bislang zwei militärische Offensiven in Nordsyrien, in Folge dessen bis heute weite Teile von Nordsyrien besetzt sind und von der Türkei unterstützten radikalislamistischen Organisationen verwaltet werden.
Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags kam in einem Bericht vom 17.10.2019 zur Legitimation der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien zum folgenden Schluss:
“In Ergebnis lässt sich selbst bei großzügiger Auslegung des Selbstverteidigungsrechts eine akute Selbstverteidigungslage im Sinne des Art. 51 VN-Charta zugunsten der Türkei nicht erkennen.” Die Türkei agiere gegen das Völkerrecht: “Mangels erkennbarer Rechtfertigung stellt die türkische Offensive im Ergebnis offensichtlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta dar.” Dadurch könne die Invasion nach Lesart des Internationalen Strafgerichtshofs als “Aggressionsverbrechen” gewertet werden.
Dennoch stößt der anhaltende türkische Völkerrechtsbruch nicht auf einen größeren internationalen Widerstand. Während ein Teil des politischen Westens die militärischen Kräfte vor Ort als Partner im Kampf gegen den IS betrachten, lassen sie gleichzeitig diese Kräfte in Stich, wenn sie von der Türkei angegriffen werden, die wiederum offensichtlich wenig zur Bekämpfung des IS beitragen.
Nun beugten sich mit Die und Schweden zwei weitere Staaten den türkischen Erpressungsversuchen und willigten in einer schriftlichen Vereinbarung den türkischen Forderungen ein. Davor gehörten diese beiden ehemaligen bündnisneutralen Staaten zu den schärfsten Kritikern der türkischen Regierung in Europa. Der NATO-Beitritt der beiden Länder geschah somit auf Kosten der kurdisch dominierten Bevölkerung Nord- und Ostsyriens, sowie der Kritiker der türkischen Regierung.
Das politische Urgestein der Grünen Hans-Christian Ströbele kritisierte diese Vereinbarung und die öffentliche Haltung scharf: “Anders als ZDF feiert ARD NATO-Beitritt Schwedens ohne zu melden, daß Erdogan die Rechnung präsentierte: 70 kurdisch/türkische Flüchtlinge müssen ausgeliefert werden. Das sei vereinbart. Der Preis Nato-Beitritt gegen Verrat an Menschenrechten ist zu hoch. Nicht vergessen”.
Dennoch feierten auch die meisten Mandatsträger seiner mitregierenden Partei diesen Schritt ohne Kritik. Stattdessen twitterte beispielsweise der Grüne Finanzminister von Baden-Württemberg Danyal Bayaz “Wichtige Entscheidung! Bei einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg kann man politisch nicht neutral sein.”, während die Türkei mit der NATO-Entscheidung weiteren Rückenwind für ihren eigenen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg bekam.
Schweden und Finnland versicherten der Türkei Unterstützung bei der ‘Bedrohung nationaler Sicherheitsinteressen” zu. Das bedeutet, dass die beiden Länder ihre Unterstützung für die von der Türkei als Bedrohung angesehene Region einstellen müssen und stattdessen der Türkei bei der Bekämpfung von “Terroristischen Organisationen” zur Seite stehen. Finnland änderte diesbezüglich bereits im Januar das Strafgesetzbuch, wonach die Definition von terroristischer Aktivität und diesbezügliche Straftaten ausgeweitet wurden. Demnach kann politische Aktivität und Teilnahme an Demonstrationen als solche Straftat gewertet werden. Schweden änderte explizit den türkischen Forderungen nach am 01.07. sein Strafgesetzbuch bezüglich des Terrorismus, was die politische Aktivität von Personen und Organisationen einschränkt, die in türkische Ungnade gefallen sind.
Der Bürgerkrieg in Syrien dauert schon seit 2011 an und ein Ende ist nicht in Sicht. Mit der neuerlichen NATO-Entscheidung wird die Türkei für ihre Pläne in Nordsyrien neuen Rückenwind bekommen. Es droht sogar, dass sich der Bürgerkrieg dadurch weiter ausweitet. Der ohnehin schon in Not und von humanitären Hilfslieferungen abgeschnitten lebenden Bevölkerung Nord- und Ostsyriens droht eine weitere Verschlimmerung ihrer Lage, die zusätzlich durch tägliche Bombardements gefährdet ist. Die vielfach dokumentierten Verbrechen in den bereits errichteten Besatzungszonen zeugen davon, welches Unheil für die Menschen der Region bevorsteht, wenn die Türkei ihre Pläne in die Tat umsetzt.
Die Gültigkeit von universellen Menschenrechten und demokratischen Vorstellungen scheinen sich für Schweden und Finnland mit den Sicherheitsbedenken vor Russland erledigt zu haben. Die NATO hingegen stärkt mit diesem wohlgewollten Schritt einen Despoten, um den anderen Despoten zu schwächen.