Die Türkei vor einem neuen Angriffskrieg gegen Nord- und Ostsyrien – Der nächste Krisenherd rollt auf Europa zu

Seit Wochen schon blockiert nun die Türkei öffentlich die Beitrittsgesuche von Finnland und Schweden in die NATO. Beide Länder gaben im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine nach jahrelanger militärischer Neutralität ihre Position auf und verkündeten öffentlich ihren Willen, Teil der NATO zu werden. Während 29 der 30 Staaten der NATO diesem zustimmten, stellt sich die Türkei bis heute als einziges Mitglied dagegen. Für einen Beitritt der beiden Länder bedarf es der Zustimmung aller Mitglieder. Für die Türkei ist dieses Erfordernis sehr willkommen.

Seit der türkischen Blockade versuchen schwedische und finnische Diplomaten, sowie Vertreter der NATO, die Türkei umzustimmen. Doch die Türkei bleibt beharrlich bei ihrer Position. Nachdem am 25. Mai erneut Diplomaten aus den beiden Ländern nach Ankara reisten, soll der türkische Außenminister eine schriftliche Vereinbarung gefordert haben, indem sich beide Länder dazu verpflichten auf die türkischen Forderungen einzugehen. Die Türkei fordert konkret, dass die Sanktionen gegenüber der Türkei, die nach dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien 2019 verhängt wurden, aufgehoben werden und stärker gegen den ‚Terrorismus‘ der türkischen Lesart vorgegangen wird. Insbesondere geht es dabei um die kurdisch dominierte Selbstverwaltung im Norden und Osten Syriens. Schweden und Finnland pflegen quasi-diplomatische Beziehungen zur Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES). Die Türkei wertet dies als politische Unterstützung von „Terroristen“ und möchte, dass beide Länder ihre politischen Beziehungen in die Region beenden. Noch am 27. Mai sagte der türkische Außenminister Cavusoglu bei einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Rumänien und Polen: „Der Grund, warum wir gegen einen Nato-Beitritt von Finnland und Schweden sind, ist ihre Unterstützung für Terrororganisationen“.

Doch für die Türkei geht es um viel mehr. Sie will aus der Lage der NATO den größtmöglichen Gewinn schlagen. Dabei geht es nicht ausschließlich um die Vorwürfe gegenüber Finnland und Schweden. Die Türkei möchte in Syrien freie Hand bekommen.  Kürzlich, am 23. Mai, kündigte der türkische Präsident Erdogan eine Militäroffensive entlang der kompletten südlichen Grenze der Türkei zu Syrien an, bei dem ein 30km tiefer Einmarsch geplant ist. Er sagte, wenn das Militär und die Geheimdienste ihre Vorkehrungen getroffen haben, werde man eine Offensive starten. Dass die Ankündigung von Erdogan inmitten der NATO-Blockade kommt, zeigt, worum es der Türkei in Wirklichkeit geht.

Dazu tagte am 26. Mai der Nationale Sicherheitsrat in Ankara. Aus diesem hieß es, dass die Verletzung der Souveränität der Nachbarländer nicht zum Ziel genommen werde, sondern nationale Sicherheitsinteressen eine militärische Offensive erfordern würden. Anders als bei der Invasion Afrins 2018 und erneut in Teilen Nordsyriens 2019, argumentiert die Türkei dieses Mal nicht mal mehr explizit mit einer angeblichen Bedrohungslage durch „Terrororganisationen“ an ihrer Grenze, sondern spricht nur noch von nationalen Sicherheitsinteressen.

MGK bildirisi: Sınırdaki harekatlar toprak bütünlüğünü hedef almıyor

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags kam in einem Bericht vom 17.10.2019 zur Legitimation der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien zum folgenden Schluss: “Im Ergebnis lässt sich selbst bei großzügiger Auslegung des Selbstverteidigungsrechts eine akute Selbstverteidigungslage im Sinne des Art. 51 VN-Charta zugunsten der Türkei nicht erkennen.” Zur Verletzung der Souveränität Syriens heißt es: “Ein Recht zur unilateralen ‘Invasion’ ergibt sich aus dem Adana-Abkommen nicht”. Bei dem Adana-Abkommen, einigten sich Syrien und die Türkei 1998 auf einen gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus, jedoch ohne festzulegen, staatliche Grenzen zu verletzen. Auch die sogenannten “Sicherheitszonen” werden als illegal eingestuft: “In der Errichtung einer türkischen ‘Sicherheitszone’ in Nordsyrien lässt sich keine völkerrechtlich zulässige Selbstverteidigungshandlung sehen”. Die Türkei agiere gegen das Völkerrecht: “Mangels erkennbarer Rechtfertigung stellt die türkische Offensive im Ergebnis offensichtlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta dar.” Dadurch könne die Invasion nach Lesart des Internationalen Strafgerichtshofs als “Aggressionsverbrechen” gewertet werden, wodurch der türkische Präsident Erdoğan angeklagt werden könne. Schon damals befand der Bericht, dass es bedauerlich sei, dass eine völkerrechtliche Verurteilung seitens der Staatengemeinschaft nicht erfolgt sei, obwohl hätte sein müssen. Die Gründe für die Zurückhaltung der westlichen Staaten, die Russland für den Überfall auf die Ukraine direkt und geschlossen völkerrechtlich verurteilten, lässt sich erahnen. Die Türkei fühlt sich auch dadurch ermutigt weiterzumachen, wie eine weitere Verlautbarung aus dem Nationalen Sicherheitsrat beweist: Die Türkei sei in internationalen Bündnissen immer treu und verlässlich gewesen, so erwarte man dasselbe auch von seinen Bündnispartnern. Staaten, die den ‚Terrorismus‘ unterstützen und dadurch internationales Recht verletzen würden, rufe man dazu auf, dies einzustellen und die türkischen Sicherheitsinteressen zu respektieren.

Die Erklärung des Nationalen Sicherheitsrates wirkt verblüffend, wenn man sich vor Augen führt, wie verlässlich die Türkei als Bündnispartner aktuell in der NATO agiert, aber auch im Krieg in der Ukraine und Syrien eine eigene Linie in Absprache mit Russland fährt. Diese Worte richten sich aber vor allem an die USA, die noch vor kurzem für Nord- und Ostsyrien einen Wirtschaftsplan vorgestellt hatten, um Investitionen in die Region zu erleichtern und außerdem auch auf militärischer Ebene dort zusammen mit den kurdisch dominierten Kämpfern des SDF im Rahmen der Internationalen Koalition gegen den IS kooperieren. Die Türkei möchte um jeden Preis ein Fortschreiten der Selbstverwaltung in der Region verhindern und eine eigene politische Agenda in der Region durchführen.

Die militärischen Operationen in der Vergangenheit dienten diesem Zweck. Aus den daraus resultierten sogenannten „Sicherheitszonen“, die von türkischen Einheiten und vor allem von der Türkei bewaffneten und unterstützten islamistischen Milizen verwaltet werden, kommen immer wieder schreckliche Details ans Tageslicht. Die Vertreibung der vor allem kurdischen Lokalbevölkerung und der nur teilweise freiwilligen Ansiedlung von arabischen Flüchtlingen in diesen Zonen, die auch in dem Bericht des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestags als „ethnische Flurbereinigung“ angeprangert wurde, ist eines dieser Verbrechen. Zu den Plänen der Türkei gehört nämlich auch, die zusammenhängenden kurdischen Siedlungsgebiete an der türkisch-syrischen Grenze durch einen arabischen Gürtel zu unterbrechen, auf Kosten von arabischen Flüchtlingen, die laut den Untersuchungen des türkischen Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Murat Erdogan gar nicht dorthin wollen. Berichten von Überlebenden, NGOs und politischen Organisationen nach existieren in den „Sicherheitszonen“ der Türkei mehrere geheime Foltergefängnisse. So gehören illegale Hinrichtungen, Folter, Vergewaltigung, Willkürjustiz und Vertreibung genauso zum Alltag vieler Menschen vor Ort, wie auch die permanente Angst davor. Nun droht dasselbe Schicksal auch den übrigen Bewohnern, die in den Gebieten leben, die die Türkei zur „Sicherheitszone“ deklarieren will.

In diesen Gebieten leben mehr als 1,5 Millionen Menschen. Ein erneuter Angriff der Türkei würde die ohnehin schon fragile Region weiter destabilisieren. Außerdem würde der politische und wirtschaftliche Fortschritt der Region wieder weit zurückgeworfen werden. Dazu gehört auch die Stadt Kobane, was im Kampf gegen den IS weltweite Berühmtheit erlangt hatte. Nach dem Sieg über den IS lag die Stadt beinahe komplett in Trümmern. Nun ist die Stadt nach jahrelanger Arbeit und Mühe wieder aufgebaut worden und viele Flüchtlinge sind in ihre Häuser zurückgekehrt. Mohammed Khalil Ibrahim, ein alter Bewohner aus Kobane, fragt: “Für wen ist denn die Sicherheitszone? Die wollen sich nur an unserem Land und Gut bereichern und die lokale Bevölkerung mit Fremden austauschen.”

 

 

Kobane ist ein Beispiel für das Schicksal vieler Städte, die dem türkischen Angriff erneut zum Opfer fallen könnten. Erneut müssten die Menschen fliehen und Leid erfahren. In diesen Gebieten leben zudem auch noch hunderttausende Binnenflüchtlinge Syriens. Ein Angriff durch die Türkei würde somit eine erneute enorme Flüchtlingswelle auslösen, mit dessen Folgen auch Europa konfrontiert wäre und zu kämpfen hätte.

Eine weitere Gefahr durch die Invasion liegt im Bereich des Kampfs gegen den IS. Durch einen Einmarsch der Türkei wären Kräfte wie die des IS ermutigt erneut anzugreifen. In der AANES sind tausende Kämpfer des IS unter der Obhut der SDF inhaftiert. In der Vergangenheit gab es bereits vermehrt Ausbruchsversuche, Befreiungsaktionen und Angriffe durch Einheiten des IS. Da durch einen Einmarsch der Türkei, die SDF ihre Prioritäten an die Verteidigung der Nordgrenze legen würde, könnte dies den Kampf gegen den IS schwächen und so sie wiederbeleben lassen. Die Folgen wären fatal. Nicht nur für die Region, sondern auch Europa wäre wieder von Terrorattacken bedroht.

Nord- und Ostsyrien wird immer wieder von großflächigen Bombardements und gezielten Luftschlägen getroffen, was bereits zu zahlreichen Zivilopfern geführt hat. Eine Ausweitung dieser Angriffe zu einem großflächigen Krieg bahnt sich an und in den türkischen Medien werden bereits die Kriegstrommeln geläutet. Um eine weitere humanitäre Katastrophe zu verhindern, dürfte die Türkei in ihren Erpressungsversuchen nicht erfolgreich sein und von ihren Plänen zurückweichen. Die internationale Gemeinschaft muss, vor allem nach dem geschlossenen Auftreten gegenüber Russland im Ukrainekrieg, dafür mit allen Mitteln die Türkei von einem Angriff abhalten, wenn sie eine weitere Tragödie verhindern will. Andreas Schieder, Delegationsleiter der österreichischen SPÖ im Europaparlament und außenpolitischer Sprecher der Partei formulierte treffend: “Erdoğan führt einen wenig beachteten, aber umso brutaleren Krieg. Er hat gestern Abend einen weiteren Einmarsch in Syrien angekündigt. Er will die kurdischen Gebiete in einer 30km Zone, also auch Kobanê, Qamishli, Amude & Derik besetzen. Blut-Vergießen im Schatten der Weltpolitik.”

 

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